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Hades

Hades

Titel: Hades Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Adornetto
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zogen an seinem Fleisch, andere weideten ihn aus. Sogar durch das Gewebe war so deutlich zu erkennen, dass der Mann Todesqualen litt, dass es mich schüttelte. Tucker zog den Wandteppich zur Seite und legte damit eine Treppe frei, die in den Stein gemeißelt war. Sie schien tief in den Untergrund zu führen, zum wahren Kern des Hotels. Im Vergleich zu der wohlriechenden Lobby stank es hier schimmlig und nasskalt. Weil es kein Licht gab, konnte ich nur eine Handbreit weit sehen.
    «Bleib dicht bei mir», sagte Tucker.
    Ich hielt mich an seinem T-Shirt fest, um ihn in der drückenden Dunkelheit nicht zu verlieren, und stieg hinter ihm die Treppe hinab. Sie war eng und gewunden, aber wir schafften es bis nach unten. Als Tucker stehen blieb, erwachte ein Feuerkorb an der Wand zum Leben. Erstaunt stellte ich fest, dass wir an einem unterirdischen Kanal standen, in dem trübes grünes Wasser floss. Ein Windhauch umspielte meine Füße, und als ich die Ohren spitzte und lauschte, glaubte ich Stimmen zu hören, die meinen Namen flüsterten. Die Wände waren mit Moos bedeckt und vom Tunneldach tropfte Wasser auf uns herab. Neben einem Plateau am Fuß der Treppe lag ein hölzernes Boot festgemacht. Tucker machte es los und warf das Seil zur Seite.
    «Steig ein», sagte er. «Und sei leise. Wir wollen nichts stören.» Es missfiel mir, wie er «nichts» sagte statt «niemanden».
    «Was denn zum Beispiel?», fragte ich beunruhigt, aber Tucker konzentrierte sich darauf, das Boot zu steuern, und verweigerte weitere Auskünfte. Während die Ruder still das modderige Wasser des Kanals teilten, hielt ich mich so verkrampft am Rand fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Tief unter uns spürte ich eine Bewegung. Dann begann die Oberfläche Wellen zu schlagen, als ob jemand vom Ufer aus Steine über das Wasser springen ließ.
    «Was ist das?», wisperte ich panisch.
    «Psst», antwortete Tucker. «Verhalt dich ganz ruhig!»
    Ich gehorchte, ließ aber meine Augen weiter über das Wasser wandern. Unter der Oberfläche stiegen Blasen auf, und dann kam etwas Bleiches, Aufgedunsenes zum Vorschein. Plötzlich waren wir von blassen, mondartigen Scheiben umzingelt, die wie Bojen auf der Wasseroberfläche trieben. Ich lehnte mich aus dem Boot – was waren das bloß für wundersame Dinger? – und musste mir gleich darauf die Hand vor den Mund halten, um nicht loszuschreien: Die Scheiben waren keine Bojen, sondern Köpfe ohne Körper. Überall um uns herum schwammen kalte, tote Gesichter mit Haaren wie Seetang. Ihre leeren Augen hatten den Blick fest auf uns gerichtet. Direkt neben mir schwamm ein Kopf, der einst einer Frau gehört hatte. Jetzt war ihre Haut runzelig und grau, als ob sie zu lange im Wasser gelegen hätte. Der abgeschlagene Kopf schlug gespenstisch gegen das Boot. Als Tucker mir einen warnenden Blick zuwarf, schluckte ich die Fragen herunter, die mir auf der Zunge lagen.
    Als er das Boot neben einer Felsnase festmachte, stieg ich dankbar aus. Wir standen in einer Nische in der Größe einer kleinen Bucht. Mitten hindurch floss ein Gewässer, das wie Diamanten schimmerte. Es verzweigte sich in verschiedene Arme mit unbekanntem Ziel. Das Wasser war so klar, dass ich bis auf den Grund sehen konnte; die Steine, auf denen wir standen, waren so ausgewaschen, dass sie so weich wirkten wie Seide. Ich warf Tucker einen fragenden Blick zu, unsicher, ob man hier sprechen durfte.
    «Dies ist der Ort, von dem ich dir erzählt habe», sagte er. «Der See der Träume.»
    «Das Wasser, das mich nach Hause bringt?», fragte ich. Ich erinnerte mich sehr genau an unser letztes Gespräch, das durch Jakes Eintreffen unterbrochen worden war.
    «Ja», sagte Tuck. «Wenn natürlich auch nicht körperlich. Aber dein Geist wird dort sein.»
    «Und jetzt?»
    «Wenn du einen Schluck davon nimmst, wirst du das sehen, wonach sich dein Herz am meisten sehnt. Das Wasser ist wie ein Rauschmittel, das Ewigkeiten in deiner Blutbahn bleibt. Du kannst jederzeit überallhin projizieren.»
    Ich brauchte keine weitere Ermutigung. Schnell ging ich am Rand des Sees in die Knie und schöpfte mir das kristallklare Wasser in die Hand. Dann führte ich sie, ohne zu zögern, an den Mund und trank gierig.
    Plötzlich lag ein leises hypnotisierendes Summen in der Luft, wie das Zirpen der Zikaden. Ich beugte mich weiter über das Wasser und suchte nach einem Zeichen. Während ich in den See schaute, bekam ich mehr und mehr das Gefühl, mich von meinem Körper zu

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