Hades
Mund stand durch den Schock offen, aber ihre Atmung normalisierte sich langsam. Gabriel legte ihr zwei Finger auf das Handgelenk und nahm ihren Puls. Als er überzeugt war, dass es ihr bald wieder gutgehen würde, stand er auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Vermutlich dachte er über Michaels Ratschlag nach.
«Eine Nonne?», fragte Xavier leise. «Wie sollte sie helfen können? Was kann sie uns sagen, was der Bund nicht kann?»
«Wenn Michael uns zu ihr schickt, wird das einen Grund haben», antwortete Gabriel. «Es gibt Menschen mit einer stärkeren Verbindung zur Unterwelt, als wir je haben können. Die Dämonen versuchen immer wieder, sie zu verführen, vor allem jene, die ihren Glauben für unerschütterlich halten. Es ist für sie eine Art Sport. Vielleicht hatte diese Schwester Mary Clare Kontakt mit den dunklen Mächten. Wir müssen sie aufsuchen und mit ihr reden.»
«Das bedeutet wohl, dass wir nach Tennessee fahren», sagte Ivy resolut.
Langsam wurde ich schläfrig. Zu viel war geschehen, und das meiste war ziemlich aufreibend gewesen. Ich hatte sehr viel Zeit außerhalb meines Körpers verbracht, was einen eigenartigen Effekt hatte: Ich sehnte mich danach, ihn wieder zu spüren, wieder fleischliche Gestalt zu haben und mich unter die Decke zu kuscheln; aber trotzdem zwang ich mich, so lange zu bleiben, bis Molly aufgewacht war. Ich musste wissen, wie sie das, was sie gerade mitbekommen hatte, verkraften würde. Waren Ivy und Gabriel jetzt gezwungen, ihr die Wahrheit zu sagen? Erinnerte sie sich überhaupt an den glanzvollen Fremden, oder konnte man sie davon überzeugen, dass sie ausgerutscht war und sich das Ganze nur in ihrem Kopf abgespielt hatte?
Meine Geschwister hatten inzwischen den Raum verlassen (packten sie bereits für die Reise?), nur Xavier war noch da und wachte über Molly. Gedankenverloren saß er ihr gegenüber auf dem tiefen Sofa und warf ihr ab und zu einen prüfenden Blick zu. Erschöpft stand er schließlich auf, um sie zuzudecken. Es berührte mich, wie aufmerksam und besorgt er war, obwohl sie sich vorhin erst so heftig gestritten hatten, und ich sehnte mich mehr nach ihm als je zuvor. Xavier war niemand, der lange Groll hegte, und der Drang, Schwächeren zu helfen, war tief in ihm verwurzelt. Es war eins der Dinge, die ich am allermeisten an ihm liebte.
Molly stöhnte und fasste sich mit der Hand an den Kopf. Sie schien aufzuwachen, und Xavier war plötzlich hellwach, stand vorsichtig auf, blieb aber ein Stück von ihr entfernt stehen. Offensichtlich wollte er ihr keinen Schrecken einjagen. Mollys Lider flackerten, und sie rieb sich mit dem Handrücken die Augen.
«Was zum Teufel …», murmelte sie leise, schob sich selbst hoch und blinzelte müde. Als ihr Blick auf die Stelle fiel, an der Michael gestanden hatte, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Ich konnte regelrecht sehen, wie die Erinnerungen auf sie einströmten, der Schock spiegelte sich deutlich in ihrer Mimik und dem weit aufgerissenen Mund wider.
«Wie geht es dir?», fragte Xavier zögernd.
«Ganz gut, glaube ich. Was ist geschehen?»
«Du bist ohnmächtig geworden», antwortete er wahrheitsgemäß. «Kommt wahrscheinlich vom Stress. Tut mir leid, dass ich vorhin so ausgeflippt bin, ich wollte mich nicht mit dir streiten.»
Molly starrte ihn an. «Du musst mir sagen, was passiert ist», drängte sie. «Sogar mit geschlossenen Augen sehe ich noch dieses Licht vor mir …»
Xaviers kühler Blick verriet mit keinem Deut, was in ihm vorging. «Vielleicht solltest du lieber zum Arzt gehen. Das klingt, als hättest du eine Gehirnerschütterung oder so was.»
Molly straffte sich und sah ihm direkt in die Augen. «Stell dich bloß nicht blöd!», blaffte sie. «Ich weiß, was ich gesehen habe.»
«Ach ja?», sagte Xavier ruhig. «Und was soll das gewesen sein?»
«Ein Mann», begann Molly zögernd und schien noch einmal zu überlegen. «Jedenfalls glaube ich, dass es einer war. Ein sehr, sehr großer, heller Mann. Er war in Licht getaucht und seine Stimme klang wie hundert Stimmen, und er hatte Flügel – riesige Flügel, wie ein Adler.»
Bei dem Blick, mit dem Xavier sie bedachte, hätte auch der sicherste Augenzeuge an seinem Verstand gezweifelt. Er presste die Lippen zusammen, hob leicht eine Augenbraue und wich einen Schritt zurück, als ob Molly absolut geisteskrank wäre. Er war ein besserer Schauspieler, als ich gedacht hatte. Aber Molly fiel nicht darauf herein.
«Schau mich nicht so an!»,
Weitere Kostenlose Bücher