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Hämatom

Hämatom

Titel: Hämatom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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hinausgeschoben. Die Menschen folgten dem Pastor über die
zertretenen Wege, zwischen hohen, kahlen Bäumen, Gräbern und bemoosten
Steinfiguren hindurch zum ausgehobenen Grab.
    Auch hier verstummte der allgegenwärtige Straßenlärm
nicht und irgendwo brummte ein Bagger, während der Pastor noch ein paar
schnelle Worte sprach. Anschließend warf Jannas Mann mit versteinerter Miene
die erste Schaufel Sand auf den Sarg. Jannas kleine Tochter mit ernstem Gesicht
die zweite. Es folgte die Frau mit dem grauen Zopf, die jetzt hemmungslos heulte.
    Als Nächste hatten sich Ramona, die Sekretärin, und ihr Begleiter
mit den schlecht frisierten Locken angestellt. Als sich der stämmige Mann vom
Grab abwandte, legte er einen Arm um Ramona. Die Vertrautheit dieser Berührung
verriet, dass sie schon öfter Arm in Arm gegangen waren. Dabei passten die
beiden so gar nicht zueinander. Sie war schlank, schick und gepflegt, er schlecht
rasiert in ausgebeulten Jeans, über deren Gürtel der Bauchansatz hing. Sie
größer als er.
    Als ich meinen Blick von dem ungleichen Paar löste, stand
die Blondine mit den breit geschminkten Lippen am Grab. Ihr folgten die Frauen
aus meiner Abteilung.
    Erst als alle anderen gegangen waren, sah ich in das Erdloch
auf den schlichten, mit Sand bedeckten Holzsarg hinunter.
    Ich hatte das Gefühl, dass Jannas Leben hatte enden müssen,
damit ich endlich schaffte, meines neu zu beginnen.
    Natürlich war es nur eine Reihe merkwürdiger Zufälle, die
dafür gesorgt hatte, dass ich jetzt Jannas Job machte, mit Jannas Kolleginnen
arbeitete, auf ihrer Beerdigung an ihrem Grab stand, versuchte ich mir
einzureden. Die meisten dieser Zufälle hatte ich allerdings selbst verursacht,
deshalb waren sie nicht ganz so zufällig, wie ich es gern gehabt hätte.
    Nur neun Jahre älter als ich selbst war Janna gewesen.
Würde in neun Jahren jemand an meinem Grab stehen? Oder viel eher? Und was
würde über mich gesagt werden? Würde ich je eine gute Mutter sein? Oder
Besteckeinwicklerin? Würde ich einen Ehemann haben? Und Kolleginnen, die mich
genug mochten, um zu meiner Beerdigung zu kommen? Würde überhaupt jemand
weinen?
    Im Augenblick sah es eher nicht danach aus.
    Woran würde ich wohl sterben, in neun Jahren oder eher? Selbstmord?
Überdosis von irgendetwas? Oder würde man auch an meinem Handgelenk ein Hämatom
finden?
    Diese Sache mit dem Hämatom entwickelte sich zur fixen
Idee. War das vielleicht ebenfalls eine Nebenwirkung übermäßigen Rauschmittelmissbrauchs?
    Egal, eins war sicher: Ich an Jannas Stelle würde mir wünschen,
dass jemand das Arschloch findet, das mir die Verletzung verpasst hat. Und
bestraft.

    Â 

16.
    Als ich am nächsten Morgen erwachte, grinste mich ein Riesenosterhase
in Augenhöhe an. Er saß auf einem OP-Tisch und zwischen seinen langen Ohren
pendelte eine Spinne mit beachtlicher Beinlänge hin und her.
    Uh! Jetzt auch noch Halluzinationen!
    Dabei hatte ich in einem dieser Aufklärungsheftchen gelesen,
dass die schlimmsten Entzugserscheinungen nach drei Tagen vorüber sein sollten
und der komplette Entzug nach zehn.
    Allerdings konnte vor allem Haschischkonsum angeblich
bleibende psychische Schäden wie Verfolgungswahn und Halluzinationen
hervorrufen …
    War der grinsende Hase der Beweis dafür, dass ich in die
Klapse gehörte?
    Ruckartig setzte ich mich auf, krachte mit dem Kopf gegen
die Decke und sackte zurück.
    Â»Autsch!«
    Der Hase grinste schadenfroh weiter. Neben ihm hockte
eine dicke Henne auf einem mit bunten Eiern gefüllten Nest zwischen mehreren Stapeln
von Schwimmbrettern, wie sie im Sportunterricht benutzt wurden. In der
Nachbarschaft zum OP-Tisch, auf dem Hase und Henne saßen, parkten mehrere
Krankenhausnachttische und einige Bettgestelle, Schreibtische, uralte Computer
und ein Haufen Bettpfannen, Nachttöpfe und Urinflaschen.
    Eine einzelne Glühlampe baumelte an ihrem eigenen Kabel
in der von Staubfäden und Spinnweben durchzogenen Luft. Der Raum war niedrig,
stickig und von einem dumpfen Dröhnen erfüllt, das aus den Tiefen des Kellers
zu kommen schien. Als würde das Gebäude knurren.
    Ich lag auf einem Stapel Matratzen.
    Ach ja.
    Der OP-Tisch, die Urinflaschen und die Matratzen mobilisierten
einige Erinnerungsfetzen. Ich war nicht verrückt, ich war im Krankenhauskeller.
Genauer gesagt in einem uralten Gerümpelkeller

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