Hämatom
unter dem Keller, irgendwo neben
der brummenden Heizungsanlage.
Als ich gestern nach Jannas Beerdigung ins
Otto-Ruer-Klinikum zurückgekehrt war, hatte ich mir einen neuen Unterschlupf
gesucht. Denn in meinem Abteilungsleiterbüro tauchten morgens um fünf für
meinen Geschmack zu viele Leute auf. Nach einigem Suchen war ich auf die schmale
Tür neben dem Fahrstuhl gestoÃen, hinter der eine ausgelatschte Uralttreppe
weiter abwärts führte.
Der Raum war so niedrig, dass ich nicht aufrecht stehen
konnte. Und den Spinnweben nach zu urteilen, wurde er so gut wie nie betreten. Mit
dem Stapel Matratzen hatte ich einen bequemen und warmen Schlafplatz gefunden.
Mein Gehirn war nun wieder komplett im Dienst und erinnerte
mich an zwei Dinge, die ich heute unbedingt erledigen wollte: Erstens musste
ich meiner Reinigungsabteilung eine weitere Mitarbeiterin besorgen, wenn ich nicht
selbst zur Putze mutieren wollte. Und zweitens würde ich das Arschloch finden,
das Janna misshandelt hatte. Und ihn anzeigen, hinter Gitter bringen, die Eier
abschneiden oder so.
Ich zog den Kopf ein, als ich mich von den staubigen Matratzen
wälzte. Im Vorbeigehen biss ich in einen kalten Pizzarest, der von meinem
ersten richtigen Essen seit Wochen übrig geblieben war, und ging mich waschen.
Um Viertel vor sechs war ich die Erste im Sozialraum Reinigung. Viktoria Lebrecht
hielt sich heute anscheinend an den Dienstbeginn.
Obwohl â so genau konnte ich das doch gar nicht sagen.
Mein Blick wanderte über die Türen der Metallspinde an der Wand. Alle
verschlossen. Auf Viktorias Platz am Tisch stand ihre Kindertasse mit Spongebob-Aufdruck,
wahrscheinlich noch von gestern. Natürlich konnte Viktoria schon im Haus sein,
wie sollte ich das wissen?
Nachdenklich schlenderte ich in mein Abteilungsleiterbüro
hinüber. Ich glaubte nicht wirklich daran, Viktoria dort zu ertappen, trotzdem
öffnete ich die Tür vorsichtig.
Der Raum war leer. Ich ging zum Schreibtisch, denn mir
war eingefallen, wo ich mehr über Janna erfahren konnte. Ich zog die dünne
Mappe mit den Beobachtungen aus der Schublade. Zumindest solange Edith,
der Besen, die Abteilungsleiterin gewesen war, musste auch über Janna eine Stasiakte
geführt worden sein.
Ich überflog die Zettel. Gestern hatte ich nach Vickys Bogen
abgebrochen, heute blätterte ich weiter.
Auf dem letzten Blatt stand Jannas Name. Und obwohl die
Notizen Mitte September, als Janna die Leitung übernommen hatte, bereits
endeten, war die Liste der Eintragungen die längste, die ich bisher gesehen
hatte.
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13.07. MA führt private
Telefonate im Dienst.
29.07. MA bringt ihr Kind
mit zur Arbeit.
03.08. MA macht während
der Arbeitszeit 13 Raucherpausen.
04.08. MA wird mehrmals
bei privaten Gesprächen während der Arbeitszeit beobachtet (u. a. R. Hübner, M.
Renner, B. Osleitschak).
12.08. MA bringt wieder
Kind mit.
24.08. MA kommt zu spät.
28.08. MA war neun Mal in
vier Stunden auf der Toilette, raucht vermutlich unerlaubterweise im Gebäude.
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Wann hatte Edith Möllering eigentlich die Zimmer
in der Verwaltung geputzt, wenn sie den gesamten Tag damit beschäftigt gewesen
war, die Toilettengänge ihrer Mitarbeiterinnen zu zählen?
Für ein Gehalt, das nur knapp über Hartz-IV-Niveau lag,
im Akkord Krankenhausklos zu putzen, war wohl für keine der Frauen ein Traumjob
â Vicky Lebrecht mal ausgenommen. Aber mit einem Besen als Vorgesetzte musste
die Arbeit unerträglich gewesen sein. In welcher Besenkammer war Edith
Möllering wohl verschwunden?
Ich warf einen Blick auf die Uhr meines Handys: kurz vor
sechs. Dienstbeginn. Meine Mitarbeiterinnen waren inzwischen sicher im
Pausenraum eingetroffen.
Und ich brauchte endlich einen Kaffee.
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Viktoria Lebrecht zuckte erschrocken zusammen, als
ich sie bat, noch einen Augenblick zu warten, während die anderen
Raumpflegerinnen den Sozialraum verlieÃen, um auf den Stationen ihre Arbeit zu
beginnen.
Die dicke, junge Frau stand vor mir wie eine Viertklässlerin
vor ihrem Mathelehrer, der sie beim Spicken erwischt hatte: das nicht
vorhandene Kinn in die Brust gebohrt, die Hände in den Schürzentaschen, den
Blick fest auf ihre eigenen FüÃe gerichtet.
Ich nahm meine lila Brille ab, um nicht zu lehrerhaft zu
wirken. »Ich wollte mich noch mal für deine Hilfe gestern bedanken, Vicky.«
Viktoria kniff ein Auge zu und sah mit dem anderen
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