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Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Titel: Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Sträter
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noch immer wie aus dem Ei gepellt aussah.
    Das änderte sich schlagartig; die hirnlose Masse Flüchtender überrannte ihn einfach. Das politische Oberhaupt der Stadt blieb als lebloses, blutendes Bündel zurück, als die panischen Brüder in den Gang der Notschleuse strömten.
    Die erste Reihe der Flüchtenden starb sofort, als sie von ihren hundertneunzig Hintermännern in die verchromten Endstücke der Stühle getrieben wurden.
    Der Gang war versperrt. Wie der Eingang zum Dornrösche n schloss ragte eine schroffe und unüberwindbare Mauer aus Metall, Schaumstoff und blutenden Leibern vor ihnen auf.
     
    Das letzte, was sie zu sehen bekamen, war eine Feuerwalze, die aus den Augen des Vaters auffächerte und zu einer lodernden, alles verzehrenden Wand wurde.
    Zweiundzwanzig Uhr zwei.
    Asche zu Asche.

Epilog
    Ein Jahr später.
    Benning stand in seiner Abteilung, steifer als je zuvor.
    Er erfreute sich am Schimmern der neuen Lederkollektion.
    Das Licht war gut für die Präsentation.
    Er hatte die Fenster vergrößern lassen. Das Sonnenlicht durc h flutete geradezu die Verkaufsräume.
    Sein strahlend weißes Lächeln harmonierte gut mit seinem dunkelbraunen Teint, der ihn fast wie einen Italiener aussehen ließ. Nur die helle Sichel der Narbe in seinem Gesicht, die er sich zugezogen hatte, als der Brunnen explodiert war, störte das Bild etwas.
    Aber das waren nur Äußerlichkeiten. Er war als Einziger en t kommen, und die Erinnerung daran verblasste Tag um Tag mehr. Schon jetzt waren ihm Details entfallen. Alles verblasste.
    Er liebte seine Frau und seine Kinder. Er liebte seinen Beruf.
    Und er war unbehelligt geblieben; niemand hatte ihn aufg e sucht, um Fragen zu stellen – das alles machte ihn zu einem glücklichen Mann.
     
    Einer seiner Mitarbeiter eilte auf ihn zu.
    Guter Mann, dachte Benni n g wohlwollend. Schlank, charmant und engagiert. Er mochte ihn.
    Was er wusste, hatte er von Benning gelernt, was diesen aber nicht daran hinderte, ein wenig auf seine stromlinienförmige Gestalt neidisch zu sein; Sein Problem waren Gerichte mit Blätterteig.
    Er wusste nicht mehr genau warum, aber das Zeug war in jeder Variation zu seiner Leibspeise geworden.
    »Herr Benning. Ein Anruf auf der Sechs.«
    »Meine Frau?«, fragte er lächelnd.
    »Nein. Hat seinen Namen nicht gesagt.«
     
    Er hob ab.
    »Benning.«
    »Das haben sie gut gemacht«, kam es aus dem Hörer, »Sie sind talentiert. Außer ihnen hat niemand überlebt.«
    »Wer spricht?«, fragte Benning mir gefrierendem Lächeln.
    Die Stimme sprach mit französischem Akzent, und sie schien von weit her zu kommen.
    »Das müssen sie nicht wissen. Nicht wichtig. Wichtig sind nur zwei Dinge: Sie sind Aufgrund ihrer Fähigkeiten der einzige Überlebende – und … «
    »Und?« Sein Ohr fühlte sich taub an.
    »Wir haben das Relikt gefunden«, flüsterte die Stimme.

Saldo Mortale
    Der Alte schüttelte nach wie vor den Kopf, als säße ein kleiner, unaufhaltsamer Motor in seinem Genick.
    »Kommen Sie«, lächelte der Mann ihn an, »nur ein mathemat i sches Problem, hm? Keine Sorge, gemeinsam schaffen wir das.«
    Als der Alte wieder wie in einer endlosen Verneinung den Kopf bewegen wollte, fassten die Hände des Knieenden seine schlaffen Wangen.
    Seine Finger versanken im Fleisch, als würde man Kuchenteig anfassen.
    Sie sahen sich in die Augen; die wässrigen des Alten starrten in die klaren, blauen des Mannes, der dessen Kopf hielt, als hätte er einen Ball gefangen.
    »Wissen Sie, was ich heute morgen getan habe?«
    Der Alte versuchte gar nicht erst, den Kopf zu schütteln.
    »Nein«, flüsterte er.
    Ich habe einen Mann gerettet. Jawoll.«
    Ohne eine Erwiderung abzuwarten, fuhr er fort.
    »Das war keine große Sache – na ja, mathematisch schon. Er wollte auf die Gleise springen, aber ich habe ihn rechtzeitig erwischt, den Trottel. Hab mir seinen Kragen gegriffen und schwupp … «
    Seine hochgezogene Braue erinnerte den alten Mann ein wenig an Graf Zahl, dieser Figur mit dem Cape aus der guten alten Sesamstraße.
    »Warum tun Sie das dann?« Die Stimme des Alten, der in se i nem Tabakwarenladen auf dem Boden lag, zwei Meter von der Tür, die aber sowohl verschlossen als auch durch den Ve r kaufstresen unerreichbar war, klang sehr, sehr schwach.
    Für den Mann, der sein Gesicht fest in den Händen hielt, klang sie besorgniserregend: Nichts als eine Verkettung hoffnung s leer hingehauchter Buchstaben ohne ein bisschen Wut oder Hoffnung.
    »Du schlüpfst mir hier doch

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