Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)
nicht durch die Finger, hm?«, fra g te er.
Der Alte sagte nichts. Er atmete nur aus, und entließ einen Schwall verbrauchter Luft, die nach Pfeifentabak und Panik roch.
Ein melodischer Ton erklang.
»Ha! Sekunde mal.«
Das Gesicht des alten Mannes kam frei, und ein Handy wa n derte ans Ohr des ungebetenen Besuchers.
»Ja. Stimmt. Bin ich.« Der Mann nickte nonchalant, und formte ein lautloses Wort.
Krankenhaus.
»Das freut mich. Okay … ja. Danke.« Eine Pause entstand. »Nein , ich muss einen Flieger erwischen. Wünschen sie ihm bitte gute Besserung. Wiederhören.«
Er ließ das Telefon verschwinden.
»Das war das Krankenhaus. Mr. Suizid kommt wieder auf die Beine. Ein paar Pillen, etwas Ruhe, ein wenig Therapie – Zack, ein völlig neuer Mensch, der den Bahnhof meidet, wenn er ein bisschen was in der Birne hat.«
»Sie … sind doch kein schlechter Mensch. Warum gehen Sie nicht? Was wollen Sie, um Gottes Willen?« Der alte Mann rief sich die letzen zwanzig Minuten ins Gedächtnis – zwangsläufig und zum wiederholten Mal. Sein Hirn wollte es nicht anders.
Sein Peiniger hatte den leeren Laden betreten, war an den Tr e sen marschiert und hatte folgende Frage gestellt:
»So allein? Den ganzen Tag? Harter Job, oder?«
»Hmm – sicher. Ist schließlich mein Laden«, hatte er mit einem Blick auf seinen Kunden gesagt ; sein Auftakt zu einem mark i gen, knappen Männergespräch über Zigaretten oder sogar teure Zigarren; sein Gegenüber machte einen finanziell potenten Eindruck.
Sein Kunde, et wa vierzig und im rechtschaffen en Blau eines Finanzdienstleisters, legte den Kopf schräg.
»Das ist gut.«
Dann schlug er zu, einfach so.
Die Faust des Mannes krachte in sein Gesicht, wobei der Au f prall seine Prothese bis fast an den Gaumen katapultierte, und dann wurde es kurz dunkel.
Er kam mit dem Gefühl, überfahren worden zu sein, zu sich.
Über ihm hockte sein Kunde, die Krawatte gelockert, und l ä chelte unverbindlich.
»Ich muss noch kurz auf einen Anruf warten. Kann sich nur um Minuten handeln, ja?«
»Was wollen Sie«, hatte er gestöhnt, die klassische Frage eines Opfers scheinbar willkürlicher Gewalt, und ein weiteres Vertr e terlächeln geerntet.
»Warten. Ein paar Minuten. Oder würden Sie schon anfangen , an meiner Stelle?«
Anfangen womit , dachte er, traute sich aber nicht, es laut ausz u sprechen.
»Wollen Sie Geld? Sie müssen an der Kasse nur TOTAL und OPEN drücken.«
Das Lachen des Mannes war einnehmend. Er lachte, wie es Lotteriegewinner tun, oder ein wieder gewählter Präsident.
»Was würden Sie an meiner Stelle tun?«
Der Besitzer des kleinen Tabakladens gegenüber des Bahnhofs spürte, wie sein Herz zu s tolpern begann, und griff an die kle i ne Westentasche, in der er sein Korodin aufbewahrte.
»Oh – oh. Was wird das?«
»Ich habe Kreislaufprobleme.«
Sein Peiniger nickte nachdenklich.
»Zig Jahre gearbeitet, oder? Der Traum vom Glück, hm? In den Fünfzigern ein VW Käfer, Picknicks im Volksgarten. In den Sechzigern der eigene kleine Laden, eine schöne Wohnung, Heirat, der Traum vom Bauen, dann tatsächlich gebaut. Rich t fest, Enkelkinder, die Freuden schöner Schwarzwaldurlaube – und jetzt das hier. Ich bin untröstlich.«
»Warum reden Sie immer von Mathematik?«
Reden, nur reden, und weiter reden.
Der Mann in B lau griff nach oben und fischte eine Packung Gitanes aus der schrägen Ablage.
»Die werden auch ständig teurer.«
Er griff in seine Sakkotasche und beförderte eine Fünfeuronote an die Luft.
»Na ja … behalten Sie den Rest.«
Hoffnung, oder der wunde Splitter von etwas, das Hoffung recht nahe kam, keimte im Herzen des Mannes mit dem T a bakladen auf.
Wenn er mich töten will, braucht er kein Trinkgeld zu geben.
Ein Strohhalm in den Untiefen reißender Ströme, aber schwimmfähig. Noch.
»Warum tun Sie das hier«, fragte er zum wiederholten Male, aber erstmals einigermaßen gefasst, beinahe im Plauderton, während die Kreislauftropfen kleine Eruptionen bitterer Tau b heit auf seiner Zunge hinterließen.
»Hoppla ! E ins nach dem anderen«, sagte der Mann im Anzug.
Dann zündete er sich eine Zigarette an, inhalierte versonnen einmal und drückte sie aus.
»Haben Sie schon mal ein Organ gespendet? Wahrscheinlich nicht, hm?«
Der Tabakhändler verstand nicht ganz, und das machte ihn nervös. Er wollte nicht dem Gerede eines Irren lauschen, der ebenso schnell wie seine Gesprächsthemen seine Laune wec h seln und ihn töten
Weitere Kostenlose Bücher