Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
das eben so.
Draußen auf der Koppel wandte Sebastian sich von dem gefüllten Wassertrog ab und kam mit dem gelben Wasserschlauch im Schlepptau auf sie zu. Hinter ihm, im Tal und über den Wäldern, formten sich jetzt die Quellwolken zu einer geballten Streitmacht. Bizarre Formen, deren Rändern die dahinterstehende, blasse Sonne einen silbernen, gestochen harten Saum verlieh. Auf Saskia wirkte dieser Anblick, als braue sich über Sebastians Kopf etwas zusammen, was sie beide weder begreifen noch bewältigen könnten. Eine Gefahr, an der sie zerbrechen würden.
Saskia stand auf und ging ihm entgegen, vermied es dabei aber, zum Himmel hinaufzuschauen.
Schmutziges Blut auf seinem Weg zu ihrem Herzen! Vom Handgelenk an arbeitete es sich unaufhaltsam aufwärts, pochend, die Adern dunkelblau verfärbend. Gestern einen Finger breit, heute zwei. Schmutziges Blut von der nicht heilen wollenden Entzündung des Nagelbetts. Seit ein paar Stunden löste es Schüttelfrost und Fieber aus. Ellie Brock
fühlte sich elendig und schwach. Seit Ewigkeiten war sie nicht mehr krank gewesen, und ausgerechnet jetzt, so kurz vor dem Ziel, drohte eine harmlose Entzündung sie außer Gefecht zu setzen. Das durfte nicht passieren!
Ellie Brock ließ sich in ihrer winzigen Höhle erschöpft fallen. Stundenlang war sie durch den hügeligen Wald, am See und den Ackerrändern entlanggelaufen, hatte aber nicht ein einziges Mutterkraut gefunden. Die verdammten Landwirte mit ihren Pestiziden hatten das Mutterkraut, welches schon immer die Nähe zum Getreide geliebt hatte, vertrieben.
Nachdem sie das kleine Feuer mit dem vorletzten Streichholz entzündet hatte und ihr wenigstens ein bisschen wärmer geworden war, betrachtete sie wieder ihr linkes Handgelenk. Nichts hatte sich geändert. Sie konnte fast sehen, wie das schmutzige Blut seinen Weg zum Herzen suchte. Erst einmal dort angekommen würde es seine verheerende Arbeit ungleich rascher fortsetzen. So weit durfte sie es auf keinen Fall kommen lassen. Zwei oder drei Pflanzen Mutterkraut, mehr bedurfte es doch gar nicht! Warum ließ die Natur sie ausgerechnet jetzt im Stich? Zwei oder drei Pflanzen für ein paar Waschungen und Tee. Das war doch nicht zu viel verlangt!
Obwohl … wie sollte sie hier in der Höhle Tee aufkochen? Ein Problem, über das Ellie bisher noch nicht nachgedacht hatte. Sie hatte Feuer, ja, aber kein Gefäß. Ohne ein metallenes Gefäß konnte sie keinen Tee kochen.
Ellie starrte ins Feuer. Wut und Enttäuschung fraßen in ihren Eingeweiden. Unwillkürlich musste sie an die alte Seibya denken, der einzige Mensch, der ihr je wirklich nahegestanden hatte – ausgenommen ihr Hans natürlich. Seibya, durch deren Tod sie erst zu dem geworden war, was sie
jetzt war. Wie gern hätte sie sie jetzt an ihrer Seite. Zwar waren Seibyas Wissen und Wesen auf Ellie übergegangen, und sie trug sie tief in ihrem Herzen, aber ihre Zuversicht, Liebe und Wärme fehlten ihr doch. Schließlich waren sie beide von einem Blut gewesen! Ellie konnte sich noch an ihre erste Begegnung in der Anstalt erinnern, als sei es gestern gewesen. Die alte krumme Frau mit der Ausstrahlung und Vitalität einer Dreißigjährigen. Beide hatten es sofort gespürt, so als sei ein Funke übergesprungen. Von einem Blut! O ja, ganz ohne Zweifel. Wie hatte Seibya das Mutterkraut noch genannt? Sie hatte einen noch älteren Namen benutzt, einen, der viel näher bei der Wahrheit lag und auf den Ursprung allen Wissens hinwies. Drudenkraut! Ja, Drudenkraut. Ach, wenn ihr doch nur eine Hand voll davon zur Verfügung stünde!
Im Schein des kleinen Feuers tauchten geisterhafte Bilder auf. Seibya und sie im Kräutergarten der Anstalt. Nur sie beide hatten sich darum gekümmert, hatten ihn anlegen, erweitern und pflegen dürfen. Beinahe jeden Tag waren sie zusammen dieser befriedigenden Arbeit nachgegangen. Seibya, wie sie krumm und hutzelig zwischen den Brennnesseln und der Schafgarbe hockte, wie sie Stängel, Wurzeln und Blätter in die Hand nahm und zu jedem Kraut, jeder Blüte, jedem Blatt etwas zu sagen wusste. Dieses immense alte Wissen hatte sie an Ellie weitergegeben.
So wie damals schon fragte sich Ellie auch heute wieder, ob die Natur in ihrer maßlosen Weisheit sie über die oft schmerzlichen Umwege zu Seibya in die Anstalt geführt hatte? Hatte man ihr erst ihren Sohn nehmen müssen, damit sie das Wissen erlangen konnte, ihn wieder zu befreien? Auf diese Fragen gab es keine Antworten, auch nicht von Seibya. Auf
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