Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
vieles andere aber schon, und selbst jetzt,
sechs Jahre nach dem Tod der Freundin, konnte Ellie sich an jedes Wort, jeden Hinweis und Ratschlag erinnern, so wie sie sich auch an ihren Tod selbst erinnern konnte. Für andere, unwissende Menschen wäre es der Verlust einer Freundin gewesen, für Ellie war es die Verschmelzung ihrer beider Wesen zu einer höheren Lebensform. Seibya hatte das uralte Ritual genutzt, war nicht verloren gegangen, sondern hinübergeflossen. Befand sich nun für alle Zeiten in Ellie. Für immer war so das alte Wissen um die Kräfte der Natur in ihr gesichert, konnte nicht vergessen werden, und eines Tages würde sie es an eine würdige Nachfolgerin weitergeben, so wie es seit Urzeiten gemacht wurde.
Was aber unabdingbar voraussetzte, dass sie nicht an dieser Blutvergiftung starb. Nicht allein in dieser schäbigen Höhle oben im Felsen starb und alles mitnahm, was die alte Seibya ihr beigebracht hatte. Es durfte nicht verloren gehen, das war sie der Alten schuldig. Außerdem würde sie sich so kurz vor dem Ziel nicht geschlagen geben! Nur eine Stunde Fußmarsch durch den Wald entfernt wartete ihr Hans. Daran musste sie jetzt denken, all ihre Kraft auf das eine Ziel richten: die Vereinigung! Gern hätte sie noch eine oder zwei Wochen gewartet, denn dann wären die Bewacher verschwunden, und die Polizei würde wieder ihrem Tagesgeschäft nachgehen. Das war nun nicht mehr möglich. Das schmutzige Blut in ihrem Körper würde ihr keine zwei Wochen Zeit lassen. Sie musste jetzt handeln!
Ellie nahm den Brotknust. Mittlerweile steinhart geworden, gab er eine gute Schale ab. In einer Plastiktüte, die sie aus dem Bäckerwagen mitgenommen hatte, hatte Ellie Wasser aus dem See in die Höhle transportiert. Jetzt stellte sie ihre Brotschale kippsicher in eine kleine Mulde
im Boden und füllte sie zur Hälfte mit dem Seewasser. Dann nahm sie den gefundenen Schraubenzieher, dessen Spitze sie in den vergangenen Tagen an einem Stein scharf geschliffen hatte, hielt ihre linke Hand über das Gefäß, schlitzte sich den Handballen auf und ließ ihr Blut hineintropfen. Als es genug war, verband sie die Wunde mit einem Stoffstreifen ihres eigenen Hemdes. Mit einem kleinen Stock eines alten Ahornbaums vermischte sie Blut und Wasser. Schließlich tauchte sie den Stofffetzen vom Hemd ihres Sohnes in das Gemisch, so wie es das alte Ritual vorschrieb. Die Reihenfolge, darauf hatte Seibya immer wieder hingewiesen, musste eingehalten werden. Ebenso wichtig waren aber die exakten Zeichnungen des Flusses. Ellie begann zu summen und sich hin her zu wiegen, tauchte ein ums andere Mal den Ahornstock in die Mischung aus Blut und Wasser und zeichnete, so gut es auf dem unebenen Höhlenboden ging, die rituellen Glyphen und Zeichen des Flusses der Energie.
In der Ferne war dumpfes Grollen zu hören. Vom Küchenfenster aus sahen Saskia und Sebastian über dem Tal einen Blitz aus der schwarzen Wolkendecke zucken. Seine Verästelungen verteilten sich weit über das Dorf. Sie nahmen die belegten Brote, die Sebastian zubereitet hatte, und gingen wieder hinaus. Setzten sich auf die Bank neben der Tür, aßen schweigend und starrten auf das Schauspiel der Natur.
Es bot sich ihnen eine unheimliche Atmosphäre von unvergleichlicher Faszination. Obwohl sie Angst einflößend war, konnten beide sich ihr nicht entziehen. Jäh setzte ein geisterhaftes Raunen in den Kronen der gewaltigen Eichen hinter dem Haus ein. Die ersten Windböen trieben Staub
über den Hof und bogen die langen, dünnen Stämme der Kiefern vorn an der Straße. Das längere Gras der hinteren Weiden, auf denen die Pferde seit ein paar Tagen nicht mehr gegrast hatten, wogte abwechselnd sanft und ruckartig hin und her, schien einen eigenartigen Tanz aufzuführen. Aus dem Dorf trug der Wind das raue Bellen eines Hundes mit herauf. Irgendwo brüllte unablässig eine Kuh. Geräusche aus weiter Entfernung, die gleichwohl Teil des Unwetters waren. Saskia und Sebastian lauschten ihnen mit Ehrfurcht.
In einer Geschwindigkeit, die wie ein Zeitraffer wirkte, schoben sich die turmhohen Wolken über das Tal hinweg auf den Hof zu. Die brodelnden Unterseiten waren pechschwarz, die bauchige Front grau marmoriert und immer wieder von Blitzen durchzogen. Wolkenfetzen wurden von den Rändern in die Mitte gesogen, als befände sich dort ein schwarzes Loch, in dem alles verging. Dichte Regenvorhänge zogen übers Tal.
Saskia zuckte zusammen, als ein besonders heftiger Donnerschlag
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