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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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großes Gebiet. Außerdem wurde das Gelände immer gefährlicher. Abbrüche, Senken und Löcher würden sie erst erkennen, kurz bevor sie hineinfielen – oder danach. Er allein würde dieses Risiko vielleicht noch eingehen, Triefbach aber, dessen Vorgesetzter er nicht mal war, durfte er es nicht zumuten. Schon der Weg zurück würde schwierig und gefährlich genug werden und sie bestimmt die doppelte Zeit kosten.
    Verfluchte Scheiße!
    »Besser wir gehen zurück«, sagte Triefbach, der sich schneller von der Anstrengung erholt hatte.

    Er hockte am Boden, streichelte Buster und steckte ihm kleine Brocken zu, die er aus der Tiefe seiner Jackentasche holte.
    Derwitz nickte. Ohne den Blick von der schwarzen, glatten Fläche des Sees zu nehmen, sagte er: »Ja. Das hat keinen Sinn mehr.«
    Er wollte eben seine Taschenlampe anschalten, um auf seine Armbanduhr zu schauen, da bemerkte er etwas. »Warte mal. Was war das?«, sagte er mehr zu sich selbst denn zu Triefbach.
    Der kam vom Boden hoch. »Was meinst du?«
    Zusammen starrten sie über den tief unten liegenden See. Als Derwitz schon meinte, sich getäuscht zu haben, sahen sie es beide. Ein winziges rotes Flackern, irgendwo auf der anderen Seite des Sees, ungefähr auf ihrer Höhe.
    »Hast du es auch gesehen?«, fragte Derwitz.
    »Da war ein Licht.«
    »Keine Autoscheinwerfer und keine Lampe, oder?«
    »Ich glaube nicht. Es war mehr … da!«
    Wieder flackerte es auf, diesmal für länger. Ein winziges, rotes, unruhiges Licht.
    »Das ist ein Lagerfeuer«, sagte Derwitz.
    »Ganz eindeutig«, stimmte Triefbach ihm zu.
    Derwitz nahm die gefaltete Karte aus der Innentasche seiner Regenjacke und sank auf die Knie.
    »Leuchte mal«, befahl er.
    Triefbach stellte sich so, dass sein Körper das Licht gegen den See hin abschirmte, und schaltete seine Taschenlampe ein. Das Licht schmerzte, blendete sie, doch ihre Augen gewöhnten sich schnell daran. Derwitz faltete die Karte auseinander, breitete sie auf dem Boden aus und ließ seinen Zeigefinger suchend darüberfahren.

    »Hier müssten wir sein«, sagte er und zeigte auf eine Stelle neben dem eingezeichneten See. »Und dort, wo wir das Feuer gesehen haben, das ist der Adlerrücken!«
    Er ließ seinen Finger über den See wandern – den zu umrunden sie in Wirklichkeit, zu Fuß und im Dunkeln sicher eine Stunde kosten würde – und tippte auf die entsprechende Stelle. Dann ließ er ihn langsam weiterwandern, ein Stück durch den Wald, nicht allzu weit, vielleicht eine weitere Stunde zu Fuß.
    Dort befand sich der Schneiderhof.
     
    »Lauf, mein Sohn, lauf!«
    Die zornige Stimme des Riesen verdrängt die Luft, wütet wie ein Orkan, und trotzdem kann er seine Mutter hören. Und er kann auch ihr Gesicht sehen, eine von Angst und Schmerz verzerrte Fratze. Noch niemals hat er seine Mutter so erlebt. Sie ist stark und mutig, doch beides reicht nicht aus, um gegen einen Riesen zu bestehen. Diese Erkenntnis erschreckt ihn bis ins tiefste Mark. Seine sichere Welt in dem kleinen Haus im Wald ist nicht mehr länger sicher, denn selbst seine starke Mutter kann nichts tun gegen einen Riesen, dessen Atem als Feuer durch die Fenster schießt und dessen Schritte die Bäume im Wald zersplittern lassen.
    »Lauf, Hans, lauf!«, schreit sie abermals, doch es ist zu spät.
    Er will nach ihrer ausgestreckten Hand greifen, spürt aber, wie seine Beine unter ihm nachgeben. Er stürzt zu Boden. Gleichzeitig lodert es in seinem Inneren, als sei das Feuer des Riesen dorthin gelangt. Er bekommt keine Luft, reißt voller Verzweiflung den Mund weit auf, ringt nach Atem, spürt aber nur flüssige Hitze, die seinen Rachen
hinunterfließt, seine Lunge füllt und für immer zerstört.
    In dem tosenden Lärm, umgeben von Nebel und Rauch, finden ihre Hände zueinander, suchen Verbindung und Halt, sind aber zu nicht mehr imstande als einer flüchtigen, letzten Liebkosung, einer Berührung zum Abschied. Und durch den beißenden Nebel hindurch sieht er ein letztes Mal die Augen seiner Mutter, angefüllt mit einer Mischung aus Angst und Liebe, ein Blick, der tief in seinem Bauch furchtbare Schmerzen auslöst. Gleichzeitig versteht er die wortlose Botschaft in diesem Blick.
    »Ich finde dich … wohin es dich auch verschlagen mag, eines Tages finde ich dich. Warte auf mich, mein Hänschen klein.«
    Dann reißt der Riese ihn fort.
     
    Mit dem Schrei nach seiner Mutter, der in seiner Kehle stecken geblieben war, schreckte Sebastian aus dem Schlaf hoch. Beide Hände

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