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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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erfasste den Schlüssel im Schloss der Haustür. Geräuschlos öffneten sich die Verriegelungen. Edgar packte die Klinke, sah Anna noch einmal an.
    »Bitte …«, versuchte sie es noch einmal, doch Edgar schüttelte nur den Kopf.
    »Jetzt!«, rief er und riss die Haustür auf.
    Mit der Flinte im Anschlag sprang er auf die Außentreppe hinaus. Die Helligkeit blendete ihn, da die Scheinwerfer aber vom Haus wegstrahlten, konnte er trotzdem ausreichend sehen. Da war nichts! Er spürte Anna in seinem Rücken.
    »Nichts zu sehen«, raunte er ihr zu.
    »Dann gehen wir besser wieder rein.«
    »Ich gehe nur kurz in den Stall und …«
    »Nein!«, stieß Anna hervor. »Nur vor die Tür hast du gesagt. Bitte Edgar, ich bitte dich, tu es nicht!« Ihre Stimme klang tränenerstickt und überschlug sich beinahe.
    »Ich habe doch das Gewehr. Bleib du hier stehen, dann kannst du mich die ganze Zeit sehen. Es passiert doch nichts.«
    Noch bevor Anna etwas erwidern konnte, stieg er die vier Stufen zum Hof hinunter, ließ seine Frau weinend und zitternd zurück. Auf halbem Weg zum Stall drehte Edgar sich noch einmal um, sah Anna mit vor der Brust verkrampften Händen dort oben stehen, lächelte ihr zu,
versuchte eine Zuversicht zu demonstrieren, die er selbst nicht verspürte. Stattdessen hatte er Angst. So tiefe und bohrende Angst, wie er sie noch nie im Leben empfunden hatte. Trotzdem ging er weiter, das Gewehr von links nach rechts schwenkend. Als er die Stalltür erreichte, klemmte er es sich unter den linken Arm, da er beide Hände zum Öffnen der Tür brauchte.
    Aus dem Dunkel hinter der Stallmauer löste sich plötzlich ein Schatten, groß und massig. Anna sah es, bevor die Gestalt in den Lichtkegel trat, schrie laut und gellend. Edgar reagierte sofort. Doch noch ehe er sich umdrehen konnte, drang ihm etwas in den Rücken. Tief in seinen Eingeweiden spürte er Kälte, beinahe zeitgleich erlosch jede Kraft in ihm. Das Gewehr entglitt ihm, er taumelte gegen die Stalltür, die Klinge wurde aus seinem Rücken gezogen. Er drehte sich halb herum, das Messer wischte in hohem Bogen durch die Luft, schnitt ihm mit einer einzigen, schnellen Bewegung den Hals auf. Blut spritzte gegen die weiße Wand des Stalls. Gurgelnd, die Hände an den Hals gepresst, sackte Edgar auf die Knie. Sein Blut ergoss sich in grausamer Geschwindigkeit in den Staub des Hofes, er selbst kippte wenige Sekunden später mit dem Gesicht voran in die große, dunkle Pfütze. Ein kurzes Zucken des Körpers, der Beine, dann war es vorbei.
    Als die massige Gestalt von Edgar abließ und sich umdrehte, erstarb Annas gellender Schrei abrupt. Ihr Überlebensinstinkt übernahm die Führung. Sie wirbelte herum, taumelte ins Haus, schlug die Tür zu und verriegelte sie. Die Hand noch am Schlüssel spürte sie das starke Beben, als sich die Gestalt von außen gegen die Tür warf. Noch einmal und noch einmal, begleitet von einem wütenden, unmenschlichen Heulen.

    Die Polizei! Uwe, ich muss Uwe anrufen … wohin nur, wohin, o Gott, Edgar, ich muss ihm helfen …
    Anna lief in die Küche, machte Licht, riss das Mobilteil aus der Halterung an der Wand und versuchte mit zitternden Fingern, Uwes Nummer zu wählen. Plötzlich ohrenbetäubender Lärm! Holz splitterte und flog in die Diele. Anna schrie auf, ließ das Telefon fallen, es zersprang auf dem gefliesten Boden in viele Teile. Stechender Pulverdampf drang in die Diele. Ein gezacktes Loch klaffte neben der Klinke in der Haustür. Anna lief zur Treppe. Als sie zur Hälfte hinauf war, krachte unten der zweite Schuss. Dadurch angestachelt hastete sie noch schneller hoch, lief über den Flur bis zur letzten Tür, betrat Sebastians Schlafzimmer und drückte die Tür leise hinter sich zu.
    Ein Versteck! Sie musste sich verstecken!
    Das Bett!
    Anna ging auf die Knie hinunter, legte sich auf den Rücken und schob sich unter das Bett ihres Sohnes. Es war eng darunter, sie schürfte sich die Stirn am Lattenrost auf. Staub wirbelte hoch, kitzelte sie in der Nase. Anna rutschte bis in die Mitte, verharrte dort und presste beide Hände auf ihren Mund. Keinen Ton! Sie durfte nicht den kleinsten Ton von sich geben!
    Minutenlang hörte sie nichts außer ihrem eigenen Atem und dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Das laute Wummern ihres Herzens, so schien es ihr, musste bis in die Diele zu hören sein. Sie starrte auf die Unterseite der Matratze, die nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war, riss die Augen weit auf, denn wenn sie

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