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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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entfernt. Aber dieser Nähe hätte es nicht bedurft; Edgar hatte über die Jahre hinweg nicht nur ein Gehör, sondern vielmehr ein Gespür für seine Tiere entwickelt. Er witterte es förmlich, wenn etwas nicht in Ordnung war. So wie jetzt!
    Er schlug die Decke zurück und schwang seine Beine aus dem Bett. Auf der Kante blieb er einen Moment sitzen und lauschte abermals. Kein Rauschen von Wind in den Eichen, kein entfernter Donner – ein aufziehendes Gewitter beunruhigte die Pferde also nicht. Aber was dann?
    Für die Dauer eines Lidschlags gab Edgar sich der Vorstellung hin, sich wieder ins Bett zu legen und die Decke über die Ohren zu ziehen. Nicht hinausgehen zu müssen, den Morgen, das Tageslicht und die Rückkehr seines Sohnes abzuwarten. Doch der Lidschlag war schnell vorüber, der Gedanke auch. Seine Pferde brauchten ihn! Er
würde nicht einfach im Bett liegen bleiben und sie sich selbst überlassen. Außerdem hatte er eine Rechnung zu begleichen. Für Taifun!
    Weil er einen eventuellen Eindringling nicht warnen wollte, zog Edgar seine Hose und sein Unterhemd im Dunkeln an, nahm das Schrotgewehr, steckte die beiden Ersatzpatronen ein und weckte schließlich seine Frau. Anna erwachte ruckartig, und noch bevor sie etwas sagen konnte, presste er ihr einen Finger auf die Lippen.
    »Psst!«, machte er.
    Im selben Moment wieherten die Pferde so laut, dass auch Anna es hörte.
    »Irgendwas stimmt da nicht«, sagte Edgar flüsternd, »ich gehe nachsehen. Mach bitte kein Licht.«
    Er nahm den Finger von ihren Lippen. Sie klammerte sich an sein Handgelenk. Panik weitete ihre Augen.
    »Nein!«, flüsterte sie heiser, »du darfst nicht rausgehen! Sebastian ist nicht da. Geh bitte nicht da raus! Ruf Uwe an.«
    Edgar schüttelte den Kopf. »Bevor der hier oben ist …«
    Er wollte aufstehen, doch Anna hielt ihn an der Schulter zurück. »Edgar, nicht, ich habe solche Angst. Verlass bitte das Haus nicht!«
    Er sah sie an. Trotz der Dunkelheit konnte er das Weiß in ihren weit aufgerissenen Augen sehen. Sie war einer Panik nahe. Edgar schwankte. Sollte er auf sie hören? Einmal im Leben auf ihre Vorahnungen hören? Uwe anzurufen war natürlich ein vernünftiger Vorschlag, aber der würde für den Weg eine halbe Stunde brauchen. Sollte er hier solange sitzen und sich das Geschrei seiner Pferde anhören? Sollte er auf seine alten Tage noch zum Feigling werden?
    »Wir machen Folgendes«, sagte Edgar. »Ich stelle mich
mit dem Gewehr an die Haustür, und wenn du die Außenbeleuchtung einschaltest, reiße ich die Tür auf. Sehe ich jemanden auf dem Hof, vertreibe ich ihn mit einer Ladung Schrot.«
    »Nein! Edgar … bitte, das ist zu gefährlich! Lass uns doch lieber …«
    Entschlossen stand er vom Bett auf, schüttelte die Hand seiner Frau ab. »Anna, ich muss da raus. Ich setze die Pferde keiner Gefahr aus, wenn ich es verhindern kann. Wahrscheinlich ist es nur eine Kolik, nichts anderes, aber ich muss nachsehen.«
    Er wandte sich ab, packte das Gewehr mit beiden Händen und verließ das Schlafzimmer. Im Dunkeln schlich er die Treppe hinunter, hörte Anna hinter sich. Im unteren Flur angekommen klappte er die Schrotflinte auf und überprüfte tastend, ob sie auch wirklich geladen war. Er wusste natürlich, dass er sie geladen hatte, wusste es ganz genau, aber sicher war sicher. Zwei Patronen lagen in ihren Kammern. Weit streuende Spezialmunition, die nicht zwangsläufig tötete, aber verheerende Verletzungen anrichtete. Er klappte das Gewehr zu. Das metallische Klacken klang auf der stillen, großen Diele unnatürlich laut und hallte wider. Ein Geräusch, das Vertrauen und Mut herbeizaubern konnte, es in diesem Moment aber nicht tat. Trotzdem trat Edgar energisch zur Haustür. Er würde sich auf seinem Grund und Boden nicht zum Narren halten lassen, von niemandem! Wer auch immer Taifun getötet hatte, würde sich noch wünschen, es nicht getan zu haben. Sollte sich diese Person auf dem Hof herumtreiben, sollte es tatsächlich diese eine bestimmte Person sein, würde er die verfluchte Geschichte hier und heute zu Ende bringen. Jedes Recht der Welt war auf seiner Seite,
wenn er vor seiner eigenen Haustür einen Eindringling erschoss.
    Anna wich zurück, versuchte nicht mehr, ihn aufzuhalten. Die einzige Lichtquelle auf der Diele war die rote Leuchtdiode im Schalter für die Außenbeleuchtung. In deren erstaunlich hellem Licht sahen sich die beiden kurz an. Edgar ignorierte das Flehen im Blick seiner Frau, nickte ihr zu und

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