Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
sie schloss, war da sofort jenes Bild roten Blutes, wie es in hohem, sprudelndem Bogen gegen die weiße Wand des Stalls spritzte. Edgars Blut. Er lag draußen auf dem Hof
und starb, und sie konnte nichts dagegen tun. Warum nur hatte er nicht auf sie gehört? Wäre er doch nur im Haus geblieben! Jetzt war es zu spät, alles zu spät. Sie konnte nichts tun, nur noch hoffen und beten, dass sie selbst mit dem Leben davonkommen würde. Sie musste überleben! Wer sonst sollte sich um Sebastian kümmern, ihn beschützen vor dem Grauen der Vergangenheit?
Ein leises Geräusch schlich sich unter der geschlossenen Tür hindurch in den Raum. So leise, dass sie es zunächst nicht einordnen konnte. Dann aber wurde es langsam lauter, schwoll an, wurde intensiver, bohrte sich in die Windungen ihres Gehirns. Draußen auf dem Flur pfiff jemand vor sich hin. Pfiff melodisch und gelassen die Melodie einer alten Volksweise. Zwischendrin wurden Türen geöffnet und wieder zugeschlagen. Schwere Schritte brachten die Dielenbretter des Flures zum Knarren. Immer wieder die Melodie, ein ums andere Mal.
Wie ein Blitz zuckte Anna der Gedanke durch den Kopf, ihr Versteck zu verlassen, um aus dem Fenster zu springen. Doch es war zu spät. Das Knarren hörte vor der Tür zu Sebastians Schlafzimmer auf, abrupt endete auch die Melodie von Hänschen klein.
Dann wurde die Klinke heruntergedrückt, und die Tür flog gegen die Wand.
Brian Adams sang Let’s make a night to remember , als Saskia und Sebastian gemeinsam unter die Dusche gingen. Es war spät geworden, aber keiner von beiden wollte dem Schlaf eine Chance geben. Brian hatte schon recht, an diese Nacht würden sie sich lange, vielleicht für immer erinnern, also kam es gar nicht in Frage, die wenigen Stunden bis zum Anbruch des Tages schlafend zu verbringen.
Sie zwängten sich gemeinsam in die enge Eckkabine und seiften sich gegenseitig ein. Schnell war die leichte Müdigkeit verflogen. Erst als das Wasser kühler wurde, hörten sie auf und verließen die Kabine. Eingehüllt in dichten Nebel trockneten sie sich ab. Als Sebastian das Handtuch über seinen Kopf legte, um sich die Haare abzutrocknen, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Er fragte sich noch, ob der viele Rotwein oder die ungewohnte Anstrengung daran Schuld trug, da wurde es plötzlich eng in seinem Hals. Er ließ das Handtuch fallen, lehnte sich mit dem nackten Hintern gegen das kühle Porzellan des Waschbeckens und starrte ins Nichts. Saskia stand leicht vorgebeugt mit dem Rücken zu ihm, selbst damit beschäftigt, ihr Haar zu trocknen, sie bemerkte nichts.
Was war das für ein Geruch?
Von einer Sekunde auf die andere brannte er in seiner Nase, intensiv und von einem üblen Geschmack begleitet, der sich als pelziger Belag in seinem Mund ausbreitete. Gleichzeitig wurde das Gefühl der Enge in seinem Hals stärker. Röchelnd griff Sebastian sich an den Hals, wollte die eiserne Klammer wegreißen, doch da war nichts. Er wollte etwas sagen, wollte Saskia auf sich aufmerksam machen, bekam aber keinen Ton heraus. Seine Augen füllten sich mit heißen Tränen, alles verschwamm, Saskia wurde zu einem Schemen. Er taumelte, versuchte irgendwo Halt zu finden. Seine Finger glitten in blinder Hilflosigkeit über ihren nackten Rücken.
»Seba… was … dir … sag …«
Ihre Worte drangen nur bruchstückhaft zu ihm durch. Sein Magen zog sich zusammen, seine Knie gaben nach, und er spürte deutlich, wie etwas in seinen Kopf fuhr. Es war wie ein Schlag, der ihn nach hinten gegen die Badezimmertür
taumeln ließ. Von Saskia mühsam gestützt rutschte er mit dem Rücken daran herab und landete auf dem Hintern.
Saskia sprach zu ihm, rüttelte an seinen Schultern, legte eine Hand an sein Gesicht, doch all das drang nicht wirklich zu ihm durch. Wie ein Nebelschemen tanzte ihr Gesicht vor seinem, weit, weit entfernt. Sebastian versuchte, sich zu wehren. Wollte sich abschotten, seinen Verstand schützen vor dem, was sich da Zutritt zu verschaffen suchte. Doch zwecklos, es war zu stark, tauchte gleich einer kräftigen Hand in seinen Kopf ein, wühlte darin herum, brachte alles durcheinander.
Plötzlich ein Blitzlichtgewitter. Helles Licht, Flackern, Dunkelheit, nach und nach mischten sich bildhafte Eindrücke in dieses stroboskopische Spektakel. Während sein Kopf auf die Seite sackte, ihm Speichel aus dem Mund lief und Saskia zu weinen begann, sah er die Bilder. Wald, ein Haus, rote Sterne über dem Boden, eine fliegende Tür, vom
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