Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Mondlicht beschienen, Schneetreiben aus merkwürdig dicken, leichten Flocken, dunkelroter Regen, der von unten nach oben schnellte und die Schneeflocken einfärbte. Und noch während er diese verstörenden Bilder sah, spürte Sebastian, wie das Etwas in seinem Kopf versuchte, mit seinen Augen zu sehen. Fremdgesteuert zuckten sie hin und her, konnten durch den Vorhang seiner brennenden Tränen und den Nebeldunst im Bad aber nicht mehr sehen als Saskias schemenhaften Umriss.
Das wollte Sebastian nicht! Plötzlich erschien es ihm eminent wichtig, Saskia nicht sehen zu können. Er wehrte sich mit aller Kraft, schrie ein stilles Genug! in seinen Kopf und spürte, wie sich darauf die Klammer von seinem Hals löste. Der Geruch verschwand, das Fremde gab seinen
Kopf frei. Im Bruchteil einer Sekunde war er wieder Herr über sich selbst. Er blinzelte, versuchte die Hand zu heben, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Wie abgestorben blieb sie jedoch auf dem gefliesten Boden liegen. Nur langsam, sehr langsam kehrte die Kraft in seinen Körper zurück.
»Saskia«, sagte er mit heiserer, brüchiger Stimme.
Sie nahm seine Hand, drückte sie, und er konnte es spüren, war so froh, sie wieder spüren zu können.
»Sebastian, was ist mit dir? Was ist nur mit dir?« Sie schluchzte. Tränen rannen auch über ihre Wangen.
»Ich … ich weiß nicht, aber … es geht gleich wieder.«
»Soll ich den Notarzt rufen?«
»Nein … nein, ist schon vorbei. Es geht mir bestimmt gleich besser.«
»Kannst du aufstehen?«
»Ich denke schon.«
Saskia half ihm auf die Beine. Seine Knie zitterten, die Muskeln waren wie Pudding, aber mit ihrer Hilfe schaffte er es bis ins Wohnzimmer und auf die Couch.
»Nicht bewegen, bin gleich wieder da.«
Sie lief ins Schlafzimmer, zog sich rasch Slip und T-Shirt an und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sie deckte ihn zu, kniete sich neben die Couch und strich ihm die nassen Haare aus der Stirn. Ihre Hand war eiskalt, seine Stirn glühend heiß.
»Soll ich nicht doch einen Arzt anrufen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein … ist nicht nötig, aber ich habe Durst.«
Saskia holte eine Flasche Mineralwasser aus der Küche, goss ihm ein Glas voll und reichte es ihm. So wie damals im Lokal leerte er es in einem Zug, verlangte noch ein
zweites und trank auch das aus. »Danke … ich hatte wirklich das Gefühl, zu verdursten.«
Saskia kroch zu ihm unter die Decke, schlang ihre Arme um seinen Oberkörper und drückte sich eng an ihn. Im Gegensatz zu seinem Körper fühlte sich der ihre an, als sei sie stundenlang durch einen Schneesturm geirrt.
»Mein Gott, was war das nur? Ich dachte, du … du … dass du stirbst.« Ihre Stimme zitterte, noch immer war sie nicht weit vom Weinen entfernt.
»Ich weiß es nicht. Es war wie damals im Restaurant.«
»Aber diesmal kannst du dich nicht verschluckt haben. Das war ein richtiger Anfall. Du wärst fast erstickt, und die Tränen sind dir nur so aus den Augen geschossen. Da stimmt doch was nicht!«
Erst jetzt, während Saskia ihm beschrieb, wie er ausgesehen hatte, erinnerte sich Sebastian an das Fremde in seinem Kopf. Er hatte es deutlich gespürt, das war keine Einbildung gewesen. War da etwas in seinem Kopf, was nicht hineingehörte? Ein Tumor vielleicht, der nach und nach sein Gehirn zerfraß?
»Du musst mit einem Arzt sprechen! Solche Anfälle darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
Sebastian antwortete ihr nicht sofort, denn jetzt tauchten auch die Bilder wieder auf, die vor ein paar Minuten durch seinen Kopf gespukt waren. Schneetreiben, rote Sterne, roter Regen von unten nach oben, Wald, ein Haus – Bilder ohne jeden Sinn, und trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie wichtig waren, ihm etwas sagen sollten. Waren sie Bestandteil einer Warnung, einer Vorahnung? Aber wie sollte er sie deuten?
Saskia drehte seinen Kopf zu sich und sah ihm fest in die Augen. »Versprich mir, dass du zum Arzt gehst.«
»Mache ich, versprochen. Obwohl es sich eigentlich nicht angefühlt hat, als ob ich krank wäre.«
»Wie denn dann?«
»Ich weiß, es klingt blöd, aber es war, als würde sich etwas Fremdes in meinem Kopf ausbreiten. Ich kann es nicht besser erklären. Ich war nicht mehr Herr meiner selbst.«
»Aber vielleicht sind genau das die Symptome irgendeiner Krankheit. Vielleicht hast du bei unserem Unfall doch etwas abbekommen!«
Sebastian sah sie an. Ihr von Sorge gezeichnetes Gesicht, in das sich jetzt Hoffnung schlich. Hatte sie vielleicht recht?
Weitere Kostenlose Bücher