Haeppchenweise
ein Z, mit zwei winzigen, goldenen Sternen dahinter. Ein Weihnachtsgeschenk von Katta, welches er nie getragen hat. Keine Ahnung, warum.
Helga löst den Bügel heraus und reicht ihm den steifen, nach Waschpulver duftenden Baumwollstoff. Er zögert, ehe er hineinschlüpft. Sie schließt die Metallknöpfe, hält ihn auf Armeslänge von sich, nickt zufrieden und öffnet die unterste Schublade des Wäscheschranks. Ihre Finger falten das rot karierte Tuch flink zu einem Dreieck, Kante auf Kante. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, hält aber inne, als er ihr Handgelenk umfasst.
„Hab dir nie gesagt, wie gut du für mich bist.“
Helga befreit ihre Hände aus seiner Umklammerung und schlingt einen Knoten in das Halstuch. „Isch wieß das, do sturer Esel. Brauchst jitz nid op deine alte Dag met Lievesschwüre kommen.“ Sie packt ihn an den Schultern und dreht ihn spiegelwärts.
Ihm stockt der Atem. Vor ihm steht Julius Zander, Maître de Cusine. Herrscher über eine Sterneküche, Koch, Richter, Henker und Vater in einem. Allmächtiger Albtraum aller Kochschüler. Und sieht beeindruckend echt aus.
Als Kind habe ich mir oft ausgemalt, wie es sei, nach einem schweren Unfall, bei dem ich fast gestorben wäre, die Augen aufzuschlagen und in dutzende, tränenaufgelöste und dankbare Gesichter zu sehen. Die Menschen, die ich liebe, natürlich vorneweg ... und gleich dahinter all diejenigen, die mal gemein zu mir waren.
Heute wünschte ich, ich wäre aufgewacht und hätte mein Gedächtnis verloren.
Bedauerlicherweise weiß ich aber exakt, wer ich bin, wie ich heiße und wo ich wohne, meine Körbchengröße ist mir ebenso geläufig wie meine Telefonnummer. Und neben den Kopfschmerzen und dem Ziehen in der rechten Schulter sagt mir das traute Wummern in meiner Herz-Magengegend, dass ich nach wie vor an Liebeskummer leide. An den Vornamen meiner ersten Flamme erinnere ich mich hingegen nicht, was wohl daran liegt, dass der mir bereits vor dem Unfall entfallen war.
Wäre auch zu schön gewesen. Man stelle sich vor: die Augen aufzuschlagen und wie neugeboren zu sein. Keine Schulden, keine unangenehmen Erinnerungen, null Verpflichtungen. Man wird Menschen los, die man sowieso nie mochte, und jeder hat Verständnis, wenn man irgendetwas vergessen hat.
Ich löse den Blick von dem unförmigen Ding, das mich vage an die überdimensionale Pappmaschee-Weißwurst erinnert, die ich im sechsten Schuljahr anlässlich einer Mottoparty gebastelt hatte. Bin nicht sicher, ob ich enttäuscht oder erleichtert bin, als ich erkenne, wer da auf dem Besucherstuhl kauert.
Muttis Kinn ist auf ihre Brust gesunken und sie schnarcht mit halb offenem Mund. Mir war gar nicht aufgefallen, dass sie beim Friseur war, auch das hübsche Blümchenkleid kenne ich noch nicht an ihr. Plötzlich drängt sich mir ein beängstigender Gedanke auf.
Angenommen, ich lag Monate, nein, Jahre im Koma? Mittlerweile ist der dritte Weltkrieg rum, draußen muss man Atemmasken tragen und strahlenfreies Essen gibt es nur aus Tuben? Blöderweise befindet sich der Schwenktisch mit dem Essenstablett auf meiner Gipsarmseite. Keine Chance für einen prüfenden Blick unter die Plastikhaube. Als ich versuche, mich aufzusetzen, fährt ein mörderischer Schmerz zwischen meine Rippen. Ich sinke wimmernd ins Kissen zurück. Mutti schmatzt und schnarcht lauter.
Meine Schonzeit ist begrenzt. Kaum verebbt meine Pein zu einem leidlichen Puckern, reißt jemand die Tür auf und ein fröhliches: „Hallohoo! Endlich wach?“, schallt durch den Raum.
Mutti schreckt von ihrem Nickerchen auf. Die Krankenschwester trägt ein vollgeladenes Tablett, offenbar steht es ausgezeichnet mit der Versorgungslage in meinem Endzeit-Szenario. Als Mutti realisiert, dass ich wach bin, schlüpft ein Wehlaut von ihren Lippen. Mit einem Satz hockt sie auf der Bettkante und ergreift ... meine rechte Hand.
Sekunden nach meinem markerschütternden Schrei stürzen ein blaubekittelter Pfleger und eine weitere Schwester in das Krankenzimmer.
Wer also behauptet, man langweile sich in Krankenhäusern zu Tode, lügt wie gedruckt. Mein Bedarf an Action ist nach zehn Minuten gedeckt, ich verzichte dankend auf weitere Aufregung. Den niedlichen Krankenpfleger ausgenommen, der darf ruhig öfter vorbeischauen.
Julia steht reglos im Hausflur des Cook & Chill und unterzieht sich der argwöhnischen Musterung Louise von Stettens. Sogar hinter Glas hat das strenge Gesicht nichts von seiner Respekt einflößenden
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