Härtling, Peter
Elise Lebret, Lotte Stäudlin, Susette Gontard. Er gibt, in vergnügter Anschauung, Auskunft über einen Menschen, den er mehr als nur schätzt. Vor dem »Mehr« fürchtet er sich noch – er versteckt sich hinter Schwüren. Ein Jahr später, er ist als Erzieher bereits gescheitert und hat seine Stellung aufgegeben, schreibt er aus Jena an Neuffer: »Hier lassen mich die Mädchen und Weiber eiskalt. In Waltershausen hatte ich im Hause eine Freundin, die ich ungerne verlor, eine junge Witwe aus Dresden, die jetzt in Meinungen Gouvernante ist. Sie ist ein äußerst verständiges, gutes und festes Weib, und sehr unglücklich durch eine schlechte Mutter. Es wird Dich interessieren, wenn ich Dir ein andermal mehr von ihr sage, und ihrem Schicksal.« Vielleicht hat Neuffer danach mehr erfahren. Ich weiß nicht mehr, kenne kein Bild von ihr, keine Briefe von ihr an ihn. Mich überraschen nur die Zärtlichkeit, Wärme und der Wirklichkeitssinn, mit denen er über sie urteilt. Sie muß ihn aufgenommen und in den Verzweiflungen über Fritz viel geholfen haben, sie muß ihn ganz ruhig und ihrer selbst sicher verstanden haben. Das war eine neue Erfahrung. Wilhelmine kehrte nach Dresden zurück, wo sie am 8. Januar 1799 einen Gotthelf Zeis heiratete. Am 9. Januar 1800 brachte sie einen Sohn zur Welt, August, doch der starb bereits als Siebzehnjähriger, ein »guter, praver, hofnungsvoller Jüngling«. So ist diese lebenstüchtige, den Schwächeren Kraft schenkende Person offenbar stets von Verlust und Unglück verfolgt gewesen.
[ Menü ]
III
Die achte Geschichte
Er hatte, nach dem mißratenen Empfang und Wilhelmines schlichtendem Auftritt, am anderen Tag Lisette, Josephine und den Diener nach ihr ausgefragt. Wie lang sie der Majorin schon als Gesellschafterin diene, woher sie komme, mit wem sie, zum Beispiel, im Dorf verkehre? Er genierte sich seiner Neugier, doch seine Aufmerksamkeit für diese Frau, die so gelassen und freundlich die Situation geklärt hatte, war größer.
Sie sei Witwe, hörte er.
Ihr Mann sei erst im vergangenen Jahr gestorben.
Sie komme aus Dresden.
Sie sei erst ein paar Wochen im Hause.
Frau von Kalb sei sehr zufrieden mit ihr.
Es heißt, sie sei jemandem versprochen.
Wem?
Das wisse hier keiner.
Bei den Mahlzeiten saßen sie nebeneinander. Meistens sprach der Major, später war es Charlotte, die die Tafel unterhielt, doch manchmal gelang es ihm, Wilhelmine in ein flüchtiges Gespräch zu ziehen, und es freute ihn, wie belesen, wie orientiert sie war.
Ihre Stimme war die eines nachdenklichen Knaben. Sie verstand es, sich zurückzuhalten, doch nicht duckmäuserisch zu erscheinen. Im Gegenteil: Ihre Präsenz war allen angenehm. Ihr Aussehen erinnerte ihn ein wenig an Heinrike. Nur war Wilhelmine reifer, üppiger, ungleich bestimmter als die Schwester. Ihre Gestalt, die »interessante Figur«, mußte den Männern ins Auge fallen – hochgewachsen, größer als er, fast zu stark und gleichwohl graziös. Sie trug stets schwarze Kleider, das Dekolleté mit einem Schleier bedeckt.
Manchmal schaute sie ins Zimmer, wenn er mit Fritz lernte, setzte sich für einige Minuten wortlos hinzu, ermunterte ihn allein durch ihre Gegenwart.
Dennoch wagte er es nicht, sie zu einem Spaziergang einzuladen oder auf ihrem Zimmer zu besuchen, sich mit ihr zu unterhalten. Er war sich nicht im klaren, was im Kalbschen Hause noch als schicklich galt.
Er dachte in den ersten Tagen fast nur an sie, nannte sie für sich Wilhelmine und wünschte, daß sie, wenn es ihm schon nicht erlaubt war, von sich aus auf ihn zukomme. Das tat sie auch.
Zwei Wochen waren vergangen, er hatte viele Briefe geschrieben, Mutter und Schwester und dem Freund Neuffer ausführlich, alles Neue nachträglich noch einmal auskostend, hatte den Hymnus auf »Das Schicksal« Zeile für Zeile korrigiert, dessen letzte Strophe die Stimmung seines Aufbruchs ins Allgemeine übertrug: »Im heiligsten der Stürme falle / Zusammen meine Kerkerwand, / Und herrlicher und freier walle / Mein Geist ins unbekannte Land! …«, er hatte die Blätter des »Hyperion« geordnet, sich auf eine langwierige, aber beschwingende Arbeit vorbereitet, er hatte sich in der Fremde eingerichtet – zwei Wochen waren vergangen, als es abends so leise an seine Tür pochte, daß er es erst überhörte, dann jedoch aufsprang. Herein rief, bereits wissend, welchen Besuch er zu erwarten hatte.
Sie bat, wie er es Heinrike erzählte, um den Kant.
Wenn Sie nicht eben noch darin lesen
Weitere Kostenlose Bücher