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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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bedeutete Welt, Handeln und einen Abglanz von Freiheit, nach der zu greifen sie nicht wagte.
    Aber diese Geschichte begann anders, mit einigen Blicken, flüchtigen Wortwechseln, einem Besuch auf seinem Zimmer, der Frage, ob er ihr den neuesten Kant, den er erwähnt habe, ausleihen wolle.
    Aber diese Geschichte kann so nicht beginnen, weil ich hineinreden, zum ersten Mal die Undeutlichkeiten und die Vielfalt der Überlieferungen und der Kommentare ausbreiten und beklagen muß. Da ich an dieser Figur anschaulich vorführen kann, wie und zu welcher Geschichte ich mich entscheide.
    Wilhelmine Marianne Kirms. In dem von Adolf Beck herausgegebenen und kommentierten Briefband der Stuttgarter Ausgabe wird über sie knapp Auskunft gegeben: »… geb. in Meißen am 21. Mai 1772, Tochter des Procuraturamtmanns Kemter (1733–77). Wilhelmine wurde Ende 1791 in Weimar getraut mit dem mehr als doppelt so alten, kränklichen und hypochondrischen Kammersekretär Kirms, der nach sehr unglücklicher Ehe schon am 7. Februar 1793 starb. Pfarrer Nenninger bezeichnet sie als eine der vorzüglichen Personen ihres Geschlechts . Bei wem sie (gegen Ende 1794) in Meinungen Gouvernante wurde, ist nicht bekannt. Mitte Juli 1795 gebar sie eine Tochter, die am 20. September in Meiningen starb. Weiteres über ihr Leben – und über die Fragen, zu denen es führt – s. im Hölderlin-Jahrbuch 1957, S. 46–66.« Ich hatte mich vor einiger Zeit noch nicht näher mit Wilhelmine befaßt, konnte nicht ahnen, daß sie mir wichtiger würde als viele andere Gestalten in diesem Buch (so, wie es mir auch mit Stäudlin erging); doch ich erinnere mich der Vermutungen und Nachweise, die für den Herausgeber der neuen Frankfurter Ausgabe, D. E. Sattler, offenbar so schlüssig waren, daß er in seiner ohnehin verkürzenden biographischen Übersicht unter »Juli 1795« mitteilt: »Geburt der Louise Agnese Kirms, mglw. Hölderlins Tochter.« Wilhelm Michel erwähnt in seiner Hölderlin-Biographie Frau Kirms nicht ein einziges Mal. Wilhelmine hat das Kind im Oktober 1794 empfangen. Um diese Zeit hielt sie sich in Waltershausen auf, war mit Hölderlin eng befreundet. Es ist nicht zu denken, daß sie zur selben Zeit Umgang mit anderen Männern hatte. Mit wem? Der Major, der Hausherr, scheint ausgeschlossen. Sie war, nach allem, was man von ihr weiß, stolz, hatte ihre Prinzipien. Und ich glaube, sie war auch ausschließlich in ihrer Zuneigung. Der Verwalter der Kalbschen Güter? Von ihm weiß ich nichts, er wird nirgendwo geschildert. Aber könnte sie überhaupt ihre Freundschaft, ihre Liebe zu Hölderlingleichsam mit einem Sprung verraten haben? So, wie ich sie mir vorstelle, wie ich mir seine und ihre Geschichte erzähle, ist das nicht möglich. Also war Hölderlin doch der Vater der kleinen Agnese? Hat er es je erfahren? Und wenn er von dem Kind hörte, hat er es sich so erklärt? Hat sie es ihm geschrieben? Haben sie Briefe gewechselt? Erhalten geblieben sind keine. Mir bleibt nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß Wilhelmine, kurz ehe Hölderlin Waltershausen für immer verließ, als er mit seinem Zögling längst nicht mehr zurecht kam und wieder unter heftigen Anfällen von Kopfschmerz litt, daß Wilhelmine ihre Schwangerschaft feststellte und ihm verschwieg. Kurz darauf verließ auch sie das Kalbsche Haus und nahm in Meiningen eine neue Stelle an. Die Spuren einer tiefen Zuneigung wurden verwischt. Und es muß eine gewesen sein, denn nie sonst hat Hölderlin so gelöst, frei und warmherzig über eine Frau geschrieben, wie über Wilhelmine, wenngleich nur an zwei Stellen in den uns erhaltenen Briefen: Am 16. Januar berichtet er Rike, der Schwester: »Die Gesellschafterin der Majorin, eine Witwe aus der Lausitz, ist eine Dame von seltnem Geist und Herzen, spricht Französisch und Englisch, und hat so eben die neuste Schrift von Kant bei mir geholt. Überdies hat sie eine sehr interessante Figur. Daß Dir aber nicht bange wird, liebe Rike! für Dein reizbares Brüderchen, so wisse 1) daß ich um 10 Jahre klüger geworden, seit ich Hofmeister bin, 2) und vorzüglich, daß sie versprochen und noch viel klüger als ich. Verzeihe mir die Possen, Herzensschwester! Das nächste Mal was Gescheideres! Ewig Dein Fritz.« Dieser aufgeräumte selbstironische Ton kehrt in keinem seiner Briefe wieder, und nicht ein einziges Mal sonst weist er kokett – und die Schwester aufreizend – auf dieäußere Erscheinung einer Frau hin. Er idealisiert nicht wie bei Louise Nast,

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