Härtling, Peter
österreichische Köchin, das Frühstück aufs Zimmer gebracht und er ein bißchen mit ihr geschwatzt hatte, da ihn ihr Dialekt vergnügte und er sich nach der Bedeutung mancher Wörter erst erkundigen mußte – was heißt »G’selcht’s«? –, bereitete er sich, wenigstens in den ersten Monaten, mit Ernst und Akribie auf den Unterricht vor. Er wollte diesen verstörten, wenn nicht schon verkrüppelten Geist fördern und bilden. War es nicht vernünftiger, sich aus ganzer Kraft einem vielleicht doch noch unverdorbenen Menschen zu widmen als auf einem Pfarrposten die Menschenliebe im Vielfältigen zu vergeuden? Nenninger widersprach ihm:
Sehen Sie, wie jeder einzelne Bewohner an mir hängt, zu mir kommt?
Zu solch einer Aufgabe tauge ich nicht.
Das ist eine Selbstbescheidung und hat nichts mit der Einsicht in die Welt zu tun.
Vielleicht muß ich mich auf mich zurückziehen.
Der Fritz wird es Ihnen nicht danken, sagte Wilhelmine Kirms.
Vor Schiller – und vor sich – legte er jedoch Rechenschaft ab über seine erzieherischen Ziele: »Er verstand mich, und wir wurden Freunde. An der Autorität dieser Freundschaft, die unschuldigste, die ich kenne, sucht ich alles, was zu tun oder zu lassen war, anzuknüpfen. Weil aber doch jede Autorität, woran des Menschen Denken und Handlen angeknüpft wird, über kurz oder lange große Inkonvenienzen mit sich führt, wagt ich allmählig den Zusatz, daß alles, was er tue und lasse, nicht bloß um seinet- und meinetwillen zu tun oder zu lassen sei, und ich bin sicher, wenn er mich hierin verstanden hat, so hat er das Höchste verstanden, was not ist.«
Am liebsten ist Hölderlin die freie Zeit zwischen 5 und 7 Uhr nachmittags, vor dem Abendessen, das, nach dem Brauch des Hauses, ausgiebiger ist als das Mittagessen, und bei dem in beträchtlichen Mengen Bier getrunken wird. Er sitzt auf seinem Zimmer im zweiten Stock, am Fenster; den kleinen, wackligen Tisch hat er sich so gerückt, daß ihmauch das Dämmerlicht noch genügt. Meistens liegen rund um ihn die Blätter des Hyperion-Manuskripts ausgebreitet, das er die letzten Monate in Tübingen für die Freunde abgeschrieben hatte. Schon während dieser Arbeit war er zeitweilig unzufrieden gewesen, die Entwicklung des Hyperion war ihm zu unvermittelt erschienen, der Sprung aus den Kinder- und Jugendjahren in die Existenz des »freiheitsliebenden Kriegers«, wie ihn Magenau charakterisiert hatte. Er mußte noch einmal von vorn beginnen, zusammendrängen, mußte sich, wenigstens in diesem Entwurf, bescheiden: »Vom Gegenwärtigen ein andermal! Auch von meiner Reise mit Adamas ein andermal!« Noch keine Diotima, noch kein Kampf gegen die Türken, noch nicht der furchtbare Schrecken vor den brandschatzenden plündernden Horden, deren Anführer Hyperion ist, noch nicht das Entsetzen über den Bruch zwischen Gedanken und Tat. Das ganze Wohlbefinden dieser abendlichen Schreibstunden am Fenster spricht sich aus, wenn er im letzten Brief des Fragments sagt: »Meinem Herzen ist wohl in dieser Dämmerung. Ist sie unser Element, diese Dämmerung?« Er weiß, daß diese paar Monate ihm geschenkt sind, daß es so nicht bleiben kann.
Mehr noch als in Tübingen liest er Kant. Als müßte er den Freunden noch Rede und Antwort stehen, arbeitet er Kants Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« Satz für Satz durch.
Die Nachrichten von draußen kommen verspätet, oft erst als Gerücht. Im Juli 1793 wurden die Abgeordneten des Gironde unter Hausarrest gestellt. Brissot wird im Oktober hingerichtet, Roland nimmt sich im November das Leben. Dann, ein halbes Jahr danach, im April 1794, wird Danton guillotiniert. Im Juni läßt sich Robespierre aufdem »Fest des höchsten Wesens«, einer gräßlichen Verzerrung des Bundesfestes, als Oberpriester feiern.
Mit dem Major und Charlotte ist darüber nicht zu sprechen. Höchstens über die Bewegungen der französischen Truppen am Rhein. Da glaubt der Major sich auszukennen, prophezeit, prophezeit falsch und findet ohnehin, daß es gut sei, so weit vom Schuß zu liegen. Nenninger flüchtet sich, wenn von draußen das Böse, das Unbekannte droht, in seine auf die dörflichen Grenzen beschränkte Menschenliebe. Vielleicht hat Hölderlin mit Wilhelmine Kirms darüber gesprochen, hat die vergangenen Tübinger Aufregungen beschworen, Seckendorfs und Stäudlins politischen Furor, alle die Unruhen wegen der herzoglichen Willkür und Schnurrers Taktieren. Das war interessant für sie,
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