Härtling, Peter
Unterricht, in die Gesellschaft mit meinem Hause, und in eigne Arbeiten«, schreibt er an die Mutter. Er führt ein Leben zwischen den Domestiken und der »Herrschaft«. So nennt er die Kalbs auch in seinen Briefen. Gewiß hat er vor dieser ersten Anstellung darüber nachgedacht, wie er sich zu benehmen habe, wie er behandelt werde und sich gefürchtet, ein höhergestellter Dienstbote zu sein. Doch er wird wohl durch seine Erscheinung und seine Selbstsicherheit überzeugt haben. Außerdem freute sich der Major, in dem Haus, das noch eine Weile ohne Herrin war, einen vernünftigen, anregenden Gesprächspartner zu haben. Bisher hatte ihn nur der Pfarrer Nenninger unterhalten, der freilich kein verstockter Dorfpastor war, sondern ein dem theologischen Fortschritt aufgeschlossener Geist. Und Nenninger wiederum war froh, mit jemandem debattieren zu können, der theologisch beschlagen war, die aktuellen Philosophen ebenso kannte wie die alten Griechen. Er und Hölderlin freundeten sich rasch an und mußten darauf achten, daß der Major nicht aus ihrer Vertraulichkeit ausgeschlossen blieb. Wann immer aber sie sich auf theologische Finessen einließen, unterbrach Kalb sie und verstand, die Aufmerksamkeit seines jungen Hofmeisters zu gewinnen, indem er, zum Beispiel, von seiner Teilnahme am amerikanischen Krieg und seiner Bekanntschaft mit Lafayette erzählte. Für Hölderlin war Lafayette, obwohl der sich von der Revolution abgewandt hatte, eine bewegende Gestalt geblieben, denn immer erinnerte er sich an die Schilderung des ersten Bundesfestes, an Lafayettes Auftreten, der nicht nur den Franzosen die Menschenrechte geschenkt hatte. Über die Republik mit dem Major zu reden, unterließ er nach einem tastenden Versuch. Der Major wetterte ohne Unterschied gegen alle, die die Monarchie verraten hatten, er denke als Soldat und nun, nachdem er sich »lange genug unter Menschen, zu Land und zu Meer, herumgetummelt« habe, als Gatte und Vater, als redlicher Hausherr und Gärtner.
Von Kind auf war Hölderlin es gewohnt, daß der Tag nach Regeln verlaufe, und so legte er, gleich zu Anfang, die Unterrichtszeiten für Fritz fest: Vormittags von 9 bis 11 und nachmittags von 3 bis 5. Was er in der anderen Zeit tat, stand ihm frei: ob er sich mit Kalb unterhielt, Nenninger unten im Dorf besuchte (der ihn übrigens bewog, gelegentlich zu predigen – auf diese Weise war er bald auch im Dorf bekannt und geschätzt), ob er mit Fritz spazierenging oder sich Wilhelmine Kirms anschloß, die eine leidenschaftliche Botanikerin war und die man selbst an unwirtlichen Tagen im Garten antraf.
Fritz bestand in den ersten Wochen darauf, so oft wie möglich bei ihm zu sein, ihn zu begleiten, auch bei den Besuchen im Pfarrhaus saß er, zur Verwunderung Nenningers, still dabei, ohne zu stören. Der Bub sei wie umgewandelt, anschmiegsam und lieb. Unter Münch und dessen Vorgänger habe er sich aufgeführt wie ein vom Teufel Besessener. Manchmal erzählte ihm der Junge von Münch, und sprach von sich wie von einem anderen. Als sei alles ein Lebensalter her und nicht eben noch geschehen. Münch habe ihn regelmäßig geschlagen. Wenn er seine Aufgaben nicht ordentlich gemacht habe. Wenn er etwas nicht gewußt habe. Wenn er habe schreien müssen. Schreien müssen? Wenn er sich beschmutzt habe. Beschmutzt? Hölderlin schien das unvorstellbar. Zwar konnte Fritz mitunter verstockt sein und mit seiner Intelligenz war es nicht weit her, es würde nicht einfach sein, ihn, wie es die Majorin gewünscht hatte, für ein Studium zu bilden, doch Hölderlin rechnete mit der gegenseitigen Zuneigung und den Wirkungen beharrlicher Freundlichkeit. Diese ersten Eindrücke teilte er Charlotte von Kalb mit, die ihm enthusiastisch antwortete: »Sie erzeigen der Menschheit einen Dienst durch die Bildung eines ächten denkenden Menschen – und mir ist es vorbehalten, Ihnen die Dankbarkeit zu äußern, die sie Ihnen schuldig ist.« Und: »Bald werd ich das Glük haben, Sie kennen zu lernen.« Ihre Briefe schüchterten ihn ein. Sie waren stets exaltiert, voller die Welt umschließender Empfindung, manchmal aber auch weinerlich im Ton, und aus dem Geschwätz der Dienerschaft war ihm klargeworden, wie launenhaft, anstrengend, wie aber auch in ihrer Sympathie überschwenglich die Majorin sein mußte. Er erwartete ihre Ankunft fast ungeduldig, denn er hoffte, sie würde erzählen von ihren berühmten Freunden, von Schiller, Goethe, Herder, Fichte.
Morgens, nachdem ihm Josephine, die
Weitere Kostenlose Bücher