Härtling, Peter
Hausherrn zu antworten, unterließ es aber unter dem mahnenden Blick Charlottes. Das nicht, nein, das nicht. So fragte er sich, wie Hegel oder Schelling oder Neuffer reagiert haben könnten. Hegel würde vom umfassenden Geist der Geschichte sprechen, vom unvermeidlichen Unglück, das allenfalls den Mord bestätige, nicht die Geschichte selbst, er würde betroffen sein, doch dem Denken, dem Gedanken den Vorrang geben wie immer. Aber Stäudlin? Es schmerzte ihn, wenn er an ihn dachte, den stets Aufgewühlten, von dem er sich, gegen seinen Willen, zunehmend entfernte und dessen Stellewieder der ältere Freund, Neuffer, einnahm. Stäudlin würde weiter hoffen! Er würde nicht resignieren. Er würde vielmehr den Nachfolgern des schrecklichen Robespierre alle Zukunft zutrauen.
Die Zeit des Direktoriums begann.
Charlotte hatte aus Jena Fichtes neueste Schrift, die »Wissenschaftslehre« zugeschickt bekommen und gab sie ihm, damit er sich von den Bagatellen des Tags ablenke. Sie überraschte ihn damit. Sie war klug, handelte intuitiv, suchte nach einem Ausgleich, und tatsächlich ging er im Pathos Fichtes auf. In einem Brief an den Bruder versuchte er sich, ohne den Zuspruch der Kameraden, allein mit seiner Verwirrung, Klarheit zu schaffen: »… unter dem unablässigen Bestreben, seine Begriffe zu berichtigen und zu erweitern, unter der unerschütterlichen Maxime, in Beurteilung aller möglichen Behauptungen und Handlungen, in Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit und Vernunftmäßigkeit schlechterdings keine Autorität anzuerkennen, sondern selbst zu prüfen, unter der heiligen, unerschütterlichen Maxime, sein Gewissen nie von eigner oder fremder Afterphilosophie, von der stockfinstern Aufklärung, von dem hochwohlweisen Unsinne beschwatzen zu lassen, der so manche heilige Pflicht mit dem Namen Vorurteil schändet, aber ebenso wenig sich von den Toren und Bösewichtern irre machen lassen, die unter dem Namen der Freigeisterei und des Freiheitsschwindels einen denkenden Geist, ein Wesen, das seine Würde und seine Rechte in der Person der Menschheit fühlt, verdammen möchten oder lächerlich machen, unter all diesem, und vielem andern reift man zum Manne.« Und, alles Erfahrene zwischen zwei Fäuste pressend: »Daß Robespierre den Kopf lassen mußte, scheint mir gerecht, und vielleicht von guten Folgen zusein. Laß erst die beiden Engel, die Menschlichkeit und den Frieden, kommen, was die Sache der Menschheit ist, gedeihet dann gewiß! Amen.«
Während er dies, seine Kräfte zusammennehmend, formulierte, denke ich jetzt, wenn ich die im Widerspruch unerhört strengen Sätze abschreibe, daß er flüchtig abgelenkt war von einem Bild, das durch seinen Kopf ging, eine zarte, gegen die Zeilen des Briefes laufende Erinnerung. Mehr ein Gefühl als ein Bild. Für Momente befand er sich wieder im Grasgarten, lag auf dem Rücken, hörte das Rauschen der Luft und hatte Kindergeschmack auf der Zunge. Und dieses Bild brach ein in das, was er dachte, fiel als Licht auf die Wörter. Er hatte sich, schon im Frühjahr, fest vorgenommen, sich aus der »Region des Abstrakten« zurückzuziehen. Die Korrekturen am »Hyperion« stimmten ihn zuversichtlich. Noch einmal las er das Stück, das er nun endgültig »Fragment vom Hyperion« nannte, Charlotte und Wilhelmine vor. Ihre Begeisterung bestärkte ihn; Charlotte entschied, so, wie es sei, solle er es Schiller für die »Thalia« zugehen lassen. Noch heute, mit dem Boten, sonst zögern und zaudern Sie bloß wieder.
Das geschah.
Neuffer hatte geschrieben, wie krank Rosine Stäudlin sei, die Schwindsucht zehre sie auf. Das traf ihn. Wilhelmine erzählte er von den drei Stäudlin-Mädchen, den Gesellschaften in Stäudlins und Neuffers Haus, wie Neuffers Mutter, die Griechin, ihn mit Anekdoten aus der Heimat erfreut habe.
Ach, das ist lange her, sagte er.
Wilhelmine lachte. Sie reden wie ein Greis über seine Jugendzeit.
Mir kommt es auch so vor.
Hat Ihnen eines der Stäudlin-Mädchen gefallen?
Wenn ich mich recht erinnere: alle drei.
Sie sind ein Filou, ein Nimmersatt.
Es kann sein, ich übertreibe, und es sind nur Nanette und Charlotte gewesen.
Nur diese beiden?
Möglicherweise nur Charlotte.
Mit ihr war es Ihnen ernst?
Möglicherweise auch mit Wilhelmine.
Nun verspotten Sie mich.
Nein, es war eine andere.
Warum reden Sie in Rätseln?
Weil es Rätsel sind.
Sie liegen nebeneinander, sie reden beide, als träumten sie, spielerisch, ohne den andern zu verletzen.
Seien Sie
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