Härtling, Peter
bleiben. Niemand hatte bisher diesen segensreichen Einfluß.
Er läßt sich überreden.
Wilhelmine sagt: Das Leben trennt uns ohnehin bald. Solange Sie dieses Ekel noch ertragen, bleiben Sie hier. Im Herbst nehmen die Neurasthenien zu. Er ist seiner Stimmungen nicht mehr Herr. Bei Tisch schwätzt er, müht sich zu lächeln, aufmerksam zu sein, doch in seiner Kehle staut sich der Schrei.
Seit Wochen liest er Fritz in kleinen Stücken »Hermanns Schlacht« von Klopstock vor, die gleiche Wirkung wie auf Karl erhoffend. Bei einer dieser Lesungen kommt es zum Eklat. Er schaut aus dem Buch auf, Fritz sitzt ihm auf dem Stuhl gegenüber, sieht ihn herausfordernd an, hatte die Hose geöffnet und hält sein Glied. Er will das Kind in aller Ruhe auffordern, sich die Kleider zu ordnen.
Ich bitte dich, lieber Fritz …
Aber das Blut schießt ihm mit einer solchen Heftigkeit in den Kopf, daß er fürchtet, der Strom könne ihm die Adern zerreißen. Der Schmerz breitet sich rasend untermSchädel bis zu den Schläfen hin aus. Er springt auf, schreit, es wird ihm schwindlig, er stürzt hin.
Charlotte und Lisette waren rasch zur Stelle. Ein wenig später kamen der Major und Wilhelmine hinzu. Fritz hatte seine Kleider längst wieder in Ordnung. Er stand da, sah zu, Betroffenheit heuchelnd, wie sein Lehrer sich mühsam aufrichtete. Der Major faßte ihn unter den Armen. Was denn, um Himmels willen, ist denn geschehen? Er konnte nicht antworten. Der Junge sagte: Plötzlich hat der Magister geschrien und ist vom Stuhl gefallen. Vorher war nichts. Und leiser setzte er hinzu: So war’s schon ein paar Mal.
Diese Perfidie machte ihn wehrlos. Der Major führte ihn auf sein Zimmer. Später ließ ihm Charlotte durch Wilhelmine ausrichten, er solle für zwei Tage pausieren. Wilhelmine erzählte er, was vorgefallen war; genauer genommen: Er umschrieb es. Sie verstand und erklärte es Charlotte, die es so nicht glauben wollte. Herr Hölderlin sei doch sehr empfindlich, etwas überspannt. Außerdem neige er dazu, mit sich selbst unzufrieden zu sein. Das mache ihn reizbar.
Dennoch war Charlotte aufmerksamer, ja fast zärtlicher als sonst. Sie bat Hölderlin abends zu sich in den Salon, in dem sie sich meistens aufhielt, Briefe schrieb, den Verwalter empfing, las oder Klavier spielte. Sie gab ihm Briefe von Herder und Schiller zu lesen, war vertraulich, äußerte sich allerdings ab und zu abfällig über Wilhelmine Kirms, und er hatte den Eindruck, sie verüble ihm das Verhältnis mit Wilhelmine, das sie bisher einfach nicht zur Kenntnis genommen hatte. Charlotte war zwar nicht schön, Unruhe und Lebensgier prägten ihr Gesicht, doch ihr Wesen strahlte unmittelbare, unverhohlene Sinnlichkeit aus. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich auf ihre Zärtlichkeit einzulassen, eine Affäre mit ihr zu beginnen.
Wilhelmine blieb für ihn Zuflucht. In den letzten Monaten, in denen Fritz ihm schrecklich mitspielte, mehr denn je. Sie machten keinen Hehl mehr daraus, daß sie die Nächte miteinander verbrachten. Lisette bestärkte ihn darin. Frau Kirms sei eine gute Frau. Pfarrer Nenninger, dem er als einzigem ohne Verklausulierung die Untaten des jungen Kalb geschildert hatte, wünschte sich, Wilhelmine und ihn trauen zu dürfen.
Er wich all dem aus. Mit Wilhelmine sprach er nicht über die Zukunft. Ich brauche Zeit, sagte er. Ich brauche Zeit für mich.
Ihr Körper war ihm vertraut. Er wunderte sich, daß er sie ohne jede Angst lieben, daß er zu ihr sagen konnte: Komm, wir gehen schlafen. Die Liebe war nicht alltäglich geworden, aber sie gehörte zum Tag.
Im Oktober mußte er jede Nacht bei Fritz wachen. Das Kind war besessen von seinem Trieb. Was zuerst aus blanker Abwehr geschah, verselbständigte sich.
Es war ein Laster, es ist eine Krankheit geworden. Charlotte erwog, ihn und den Jungen für einige Wochen nach Jena zu schicken. Dort könnten sie beide sich ablenken.
Was halten Sie von einer Tanzstunde?
Das könnte gut tun.
So wurde die Reise, die Umsiedlung, wie er es nannte, vorbereitet.
Wenn Fritz endlich eingeschlafen war, ging er zu Wilhelmine, sie lagen halbe Nächte wach, redeten aufeinander ein, streichelten sich, wußten, daß sie sich wahrscheinlich nie wieder sehen würden.
Sie hatte sein neues Gedicht, das ihm viel Mühe gemachtund an dem er lange korrigiert hatte, auswendig gelernt, sagte es manchmal, als wäre es ein Refrain vergangener Strophen: »Noch lächelt unveraltet / Des Herzens Frühling dir, / Der Gott der
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