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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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sehr wohl gezogen.« Blums Beschreibung gleicht dem Bild, das man von Johanna kennt. Er wird sie angegafft haben und angezogen worden sein von dem zarten Schmelz dieser Gestalt, der Schwermut, aber auch der Tüchtigkeit. Er hat sie jünger gemacht, als sie damals war. Es ist denkbar, daß sie jünger erschien. Offenbar hat sie seine Phantasie angeregt. Vielleicht hat er sie insgeheim begehrt, die folgende Nacht von ihr geträumt. Hingehört freilich hat er nicht; was er aufschrieb, ist ungenau.
    »Die Mutter war damals fast zweiunddreißig Jahre alt. Sie hatte Jahrs zuvor ihren zweiten Mann verloren, hatte seit 177o sieben Kinder geboren und davon drei sterben sehen (ein viertes starb 1783).«
    So weit hatte sich Blum nicht erkundigen wollen. Die Kirchenregister von Lauffen und Nürtingen halten alle diese Daten fest:
    Johann Christian Friedrich, geboren den 2o. März 1770 – der Hölderlin;
    Johanna Christiana Friderica, geboren den 7. April 1771 und gestorben den 16. November 1775 bei den Großeltern in Cleebronn;
    Maria Eleonora Heinrica – die Rike – geboren den 15. August 1772.
    Das waren Hölderlins Kinder, die Lauffener, denen folgten die Gokschen, die Nürtinger:
    Anastasia Carolina Dorothea, geboren den 18. August 1775, gestorben den 19. Dezember desselben Jahres »an Auszehrung«;
    Karl Christoph Friedrich – der Karl – geboren den 29. Oktober 1776;
    ein Namenloser, von der Hebamme »gäh« getauft, doch auf welchen Namen?, geboren den 16. November 1777 »und in der zweiten Stunden darauf verschieden«;
    Friederika Rosina Christiane – sie hätte eine zweite Rike, die Goksche Rike für ihn sein können – geboren den 12. November 1778, gestorben den 20. Dezember 1783.
    Sie lebte noch, als Blum dieser Frau nachschwärmte, kränkelte wahrscheinlich schon, stets in der Stube, in der kein Fenster geöffnet werden durfte, damit sich das schwache Wesen nicht erkälte.
    Seid still, die kleine Rike braucht Ruhe.
    Oder ließ man diese Kinder dahinsiechen, fatalistisch, weil man das Sterben gewohnt war, weil man wußte, daß nicht jedes durchkomme? Ich weiß es nicht.
    Ich versuche nur zu korrigieren, indem ich das eine Zitat dem anderen gegenüberstelle:
    »Hatte somit viel Schmerz und Leid erfahren, auch Sorge für den großen Haushalt und den Bestand des Vermögens gehabt: bemerkenswert daher, daß Blum nicht an ihr die Spuren des Kummers hervorhebt, auch nicht Züge weltabgewandter Frömmigkeit, sondern Schönheit und Anmut, wie selbst das Bildnis der Jungvermählten trotz seiner künstlerischen Schwächen verrät.«
    Offenbar ist sie froh, für einen Augenblick aus der Alltäglichkeit herauszukommen, sie vergißt die Zwänge, die Toten, will sich unterhalten mit den Verwandten, nicht gefragt, nicht getröstet werden. Vielleicht ist sie aber auch ein Hausteufel und ein Straßenengel, lädt den Kummer daheim ab und will als Besuch nur erfreuen. Der Sohn hat sie oft genug ermahnt, nicht so selbstvergessen zu leiden.
    Jetzt fahren sie zurück nach Löchgau, ins Pfarrhaus.
    Jetzt fährt er, mit andern Schülern und Eltern, zur vierten Prüfung.
    Er wird, wie gesagt, nach Denkendorf kommen, auf die Niedere Landesschule, sein Weg ist festgelegt, nur darf er von ihm nicht abkommen.
    Auf seine Noten ist die Familie stolz, dreimal »sehr gut«, zweimal »recht gut«, vor allem sein Griechisch stellt die Prüfer zufrieden, hier zeige sich bereits das, »was man genium linguae heißet«.
    Gut, Fritz.
    Sie feiern.
    Köstlin hält eine Rede. Die Mutter hat Kuchen gebacken. Du darfst haben, soviel du willst. Mit Kraz unterhält er sich über die verlorenen Schönheiten des Altertums. Köstlin, der am andren Tischende der Großmutter zugesellt ist, ist auf den Präzeptor neidisch.
    Nachher noch ein Privatissimum, Fritz?
    Strenget des Kind bloß net zu arg an.
    Er fühlt sich nicht angestrengt, vielmehr ernstgenommen.
    Einen Monat nach seinem vierzehnten Geburtstag wird seine Konfirmation gefeiert, am 18. April 1784. Den Dekan an der Spitze des Zuges von fünfundfünfzig Konfirmanden, gehen sie durch ein Spalier von Gaffern über die Marktstraße, die Treppe unter der Lateinschule hindurch bis zur Stadtkirche.
    In dieser Kirche wurde ich auch konfirmiert.
    Es ist nicht verbürgt, wer sein Dekan war. Es könnte Klemm gewesen sein oder Köstlin. Meiner hieß Martin Lörcher. Er schrieb mir unlängst, ich ließ seinen Brief unbeantwortet, weil es einem schwerfällt, an seine Kindheit zu schreiben.
    Ich ging denselben Weg

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