Härtling, Peter
hinter dem Pfarrer her und habe diesen Zug kürzlich, als eine meiner Nichten konfirmiert wurde, wieder gesehen: der Geistliche in wehendem schwarzem Talar allen voran. Das Bild bewegte mich. Damals, als ich in einem armseligen, zu engen Anzug in der frommen Kolonne lief, dachte ich nicht an Hölderlin, an alle die Vorgänger, daß es Jahr für Jahr dasselbe sei, die erwartungsvolle Gemeinde, die Choräle und das Fragespiel zwischen Pfarrer und Konfirmanden, von denen die einen die Gebote aufzusagen haben, die andern, nach dem lauernden »Was ist das?« des Pfarrers, die Erläuterungen aus dem Katechismus. Dieses »Was ist das?«, das einem in den Ohren dröhnt, das noch nach Jahren seine Antwort will und das noch durch Hölderlins späte Gedichte geistert. Dieses mich verblüffende »aber was ist diß?«
Nach dieser Prozedur, in der jedes Steckenbleiben sich geradezu dem Vorwurf des Herrn aussetzte, las der Pfarrer die Konfirmationsprüche vor. Der meine steht im 5. Kapitel des Buches der Richter, Vers 31:
»Die den Herrn liebhaben, müssen sein,
wie die Sonne aufgeht in ihrer Macht.«
Ich habe dieses inwendige Strahlen nicht gelernt.
Sein Spruch ist nicht bekannt. Es gibt viele, die für ihnpassen könnten. Doch auch bei ihm müßte von einer anderen Sonne die Rede sein.
Es ist ein rührendes Bild, wie sie zurückwandern zum Dekanat, hinter dem Pfarrer her, eingeschüchtert, aufgenommen in die Gemeinde, eingesegnet. Daran werden sie nicht denken, wie wir nicht daran gedacht haben. Sie sind schon ein bißchen müde von dem Trubel, das Fest geht weiter, das große Essen im Kreis der plappernden Verwandten. Und die Geschenke! Ich bekam ein Fahrrad und das neue Testament, herausgegeben 1947 von der Privilegierten Württembergischen Bibelanstalt, »ermöglicht durch eine Materialspende der American Bible Society New York an das Hilfswerk der Evangelischen Kirche Deutschlands«.
Sie warteten vor dem Dekanat auf ihn, die Mutter, die Geschwister, die Großmutter, der Pate Bilfinger, die Volmars aus Markgröningen, die Majers aus Löchgau. Sein neuer Anzug machte ihn steif, der Batist des Hemdes kitzelte ihn am Hals. Sein Haar hatten sie zu sehr gepudert. Er fühlte es, wie eine Haube, den ganzen Tag. Er saß an der Festtafel zwischen Oberamtmann Bilfinger und der Großmutter. Bilfinger redete, erinnerte an die beiden Väter, deren Freund er war, und der Mutter traten die Tränen in die Augen. Köstlin nickte ihm dann und wann aufmunternd zu. Kraz redete, ständig mit dem Mundtuch wedelnd, auf die Witwe des Professors Jäger aus Denkendorf ein.
Frau Jäger hatte dem Konfirmanden Hillers »Geistliches Liederkästlein zum Lobe Gottes« geschenkt, was ihn entzückte, denn es war ein weitbekanntes und von Kraz häufig zitiertes Buch, das er nun selber besaß, neben den Schulschriften, den wenigen Büchern aus Goks Besitz und denen, die ihm Tante Lohenschiold hinterlassenhatte, die von der Mutter aber in Verwahrung genommen worden waren. Köstlin las gerührt und mit allzu heftiger Betonung die Verse vor, die Friederike Jäger als Widmung hineingeschrieben hatte:
»Was hilfft uns Tugend und Vernunfft?
Beleßenheit und vieles Wißen?
Und mit der scharff gelehrten Zunfft
Stehts neue Schlüß auf Schlüße schließen,
Was lernnet man am Schluß dabei?
Daß Menschen Weißheit Thorheit sey.
Ohne, und gegen der überschwenglichen Erkentnus Jesu Christi.«
Niemand hat vorgelesen. Wer hat geredet? Hat tatsächlich einer eine Rede gehalten? Die Konfirmation in Württemberg ist ein Ritual. In Nürtingen hat sich seit meiner Feier im Jahre 1949 nichts geändert. So denke ich in Formen und Formeln zurück. Erlebt man Daten durch Imagination, kann Wahrheit zur Wirklichkeit werden, doch wiederum eine Wirklichkeit, die zwei Wirklichkeiten umschließt: die des Beschriebenen und die des Schreibenden. Die zweite Wirklichkeit wird immer überwiegen.
Also schreibe ich: Köstlin hat vorgelesen. Es ist vorstellbar; es ist auch zu denken, wie er vorgelesen hat.
Hölderlin hat, schon in Nürtingen, Gedichte geschrieben, und »frühzeitig entschied sich jene Vorliebe für die Classiker Griechenlands und Roms, welche einen Hauptzug seines Charakters bildet«. Den Lehrern von Denkendorf hat er wenig später, konventionell und devot, in einem Gedicht gedankt. Hat er Köstlin oder Kraz seine ersten Versuche gezeigt, vorgetragen, oder Freunden wie Bilfinger? Es ist wahrscheinlich.
Über den Winkel von Hardt hat er eines seiner ersten
Weitere Kostenlose Bücher