Härtling, Peter
sich irgendeiner zu neugierig in ihrer Nähe herumtreiben. »Den ganzen Morgen istFrau Gontard mit Hölderlin oben in der Laube und im Cabinet, die Kinder verlassen diese Gegend«, schreibt sie an eine Freundin in Frankfurt. Sie leidet unter dieser geheimen Liebe, weil sie sich ihre eigene nicht erfüllen kann: Ihr Louis, der Freiherr Rüdt von Collenberg, steht mit seiner Truppe nicht weit entfernt, könnte sie gelegentlich besuchen, doch sie fürchtet die Entrüstung Gontards, wohl auch Susettes. Nur einen, Hölderlin, weiht sie in ihre Qualen ein.
Meinen Sie denn, daß Madame Gontard Verständnis für ein Rendezvous hätte, Hölder?
Ich bin nicht sicher.
Sie gehen vor der kleinen Laube auf und ab, zu der Susette gleich kommen wird.
Und Madame selbst? Und Sie?
Sie fragt nicht aufsässig, eher traurig. Das rührt ihn. Er hatte sich manchmal eingeredet, sie ersetze ihm Heinrike, seine Schwester, der er sich anvertrauen könne, doch er hatte auch mit dem Gedanken gespielt, mit ihrer Hilfe Susette zu vergessen, zu verleugnen. Bei ihr müßte er nicht auf der Hut sein. Warten Sie, Marie, sagte er, läuft über den Rasen zum Haus, auf sein Zimmer, sucht unter den säuberlich geschichteten Blättern, zieht eines heraus, rennt wie ein Kind, dem ein wunderbares Geschenk für den Freund eingefallen ist, außer Atem zurück. Er war nicht darauf gefaßt, Susette schon anzutreffen. Die beiden Frauen stehen in weißen Kleidern auf dem Rasen, unterhalten sich. Er hält inne. Geht langsam auf sie zu, wünscht Susette einen guten Morgen, gibt Marie wortlos das Blatt. Sie liest, sieht ihn fragend an, wagt nicht zu reden, Susette nimmt es ihr aus der Hand: Was ist das, Hölder, ich kenne es nicht?
Doch, ihr kennt es, beide, ich las es in Driburg vor.
Das ist lange her, sagt Marie, als rede sie von einem anderen Leben.
Ja, lange, sagt er, und meint es wie sie.
Kommt in die Laube, und lies es, dann werde ich mich sicher erinnern.
»Nun laß dich nur das Mitleid nimmer irreführen. Glaube mir, es bleibt uns überall noch eine Freude. Der echte Schmerz begeistert. Wer auf sein Elend tritt, steht höher …«
Jetzt weiß ich es wieder, Wort für Wort. Weshalb liest du es vor?
Ich wollte Marie trösten.
Marie? Wüßte ich eine, die keinen Trost braucht, dann ist es doch Marie.
So ist es nicht, sagt Marie, durchaus scharf und zurechtweisend.
Du? Weshalb muß unser Hölder dich trösten?
Kannst du es dir nicht denken?
Nein.
Hölderlin legt für einen Moment Marie die Hand auf den Mund: Sagen Sie nichts. Ich will es erklären. Sie hat ihren Louis, Susette, und sie hat ihn nicht. Sie will ihn aber haben. Und sie traut sich nicht, ihn wenigstens für eine verborgene Minute haben zu dürfen.
Aber du wirst doch bald heiraten, Marie.
Bald? Das dauert noch Wochen.
Dann mußt du dich gedulden.
Und ihr?
Das ist etwas anderes. Du erwartest dir ein langes gemeinsames, ehrbares Leben.
Und du?
Darauf kann ich dir keine Antwort geben.
Ich will weiterlesen, sagte er leise, fuhr fort, hin und wieder vom Blatt aufschauend, und als er zu Ende war, sagte er: Sie können sich Ihrer Zukunft sicher sein, Marie, doch fragen Sie einen Hofmeister nie nach der seinen.
Marie geht zu den Kindern. Von fern sind deren Stimmen zu hören. Susette lehnt sich zurück. Sie schließt die Augen.
Die sommerlichen Geräusche sickern in sein Bewußtsein, manchmal geschieht es, daß es sich gegen alles sperrt, taub wird und bei Sinnen bewußtlos ist.
Wenn es geht, schickt Marie alle aus dem Haus, die Kinder, die Diener, jene mit dem Wagen fort und die auf den Markt. Er geht zu Susette, ist derart angespannt, daß es ihn schüttelt. Sie reißt ihn an sich, er küßt ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Arme, ihre Hände, sie beteuern sich Dauer, beklagen die Kürze ihres Lebens, schmieden Pläne, verwerfen sie, belauern sich, und immer, wenn er seiner nicht mehr Herr ist, drängt sie ihn von sich, weint, das nicht, er habe sie ja ganz, ihre Vernunft und ihre Unvernunft, ihr Herz und ihren Verstand, doch so weit könne sie nicht gehen, wenn es sie auch mehr noch verlange als ihn.
Danach gerät er bisweilen in einen Zustand, von dem er auch träumt: Daß nicht nur die Wände seines Zimmers um ihn zusammenrücken, ihn zu ersticken drohen, sondern auch die Luft um ihn fest wird, oder daß ihn Gontard verfolgt, er über eine Wiese flieht, die sich vor ihm unendlich aufrollt. Die Nervenschmerzen, die solchen Tagen folgen, hält er kaum aus.
So verbringen sie den
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