Härtling, Peter
freut sich, tröstet sich an dem Zuruf des Bewunderten. Die »Freiheit und Ruhe«, die er sich wünscht, kehren aber nicht ein.
Susette verläßt mit den drei Mädchen das Sommerhaus. Die Messe hat begonnen. Kobus Gontard braucht sie, er will sie in dem Umtrieb neben sich wissen, sie macht aus ihrer Vorfreude keinen Hehl.
Er bleibt mit Henry zurück. Sie behandeln Plutarchs Demosthenes-Porträt. Henry ist der Stoff zu schwierig, zu langweilig, er versucht, seinen Lehrer davon abzubringen.
Warum bist du immer so traurig, Hölder?
Komm ich dir so vor?
Du bist es ja. Das sieht jeder.
Aber ich scherze doch mit dir, ich kann lustig sein.
Das ist nicht richtig lustig.
Ich kann es dir nicht erklären, Henry.
Fühlst du dich bei uns nicht wohl? Hast du Heimweh?
Heimweh? Wie kommst du darauf?
Du hast so lieb von Nürtingen erzählt, von Karl, wie er klein gewesen ist.
Deswegen habe ich nicht Heimweh. Vielleicht habe ich Fernweh.
Willst du fort? Wohin?
Wenn ich es wüßte.
Was weißt du denn überhaupt, fragt der Junge und schlägt lachend die Hände zusammen.
Fast nichts mehr, Henry.
Dann mußt du ja lernen wie ich.
Ja.
Überraschend kündigt Neuffer seinen Besuch an. Er werde ganz offiziell im Gontardschen Haus auftreten können, da er Landauer, einen Stuttgarter Geschäftsmann, begleite, der sich mit Herrn Gontard für die Messe verabredet habe. Am 11. September 1797 treffen beide ein, er holt sie aus dem Gasthof ab, ist selig, Neuffer in die Arme schließen zu können, auch Landauer, der ihn mit seiner Gelassenheit und Festigkeit wieder beeindruckt. Landauer ist sehr herzlich und sagt ihm, noch auf dem Weg zum Weißen Hirsch, daß er, sollte er einmal Hilfe benötigen, sich ohne Bedenken an ihn wenden könne; oder wenigstens Neuffer verständigen. Ich bitte Sie dringlich, Herr Hölderlin.
Sehe ich aus, als müßte ich um Hilfe flehen?
Man weiß es nie.
Sie haben einen ausgezeichneten Menschenverstand, Herr Landauer.
Landauers Gegenwart bewirkt, daß Gontard ihn zum ersten und auch zum letzten Mal ernst nimmt. Er darf dabeibleiben. Wird nicht weggeschickt. Er merkt Susettes Stolz, die sich mit Geschick unbefangen gibt, obwohl sie weiß, daß Neuffer – und damit wohl auch Landauer – eingeweiht ist. Kennen Sie den Hofmeister Hölderlin schon lange, erkundigt sich Gontard bei Landauer, und der antwortet betont überschwenglich: Das nicht, doch er ist mir ein lieber Freund und ein verehrungswürdiger Dichter.
Was Gontard verlegen macht. Er kommt auf die Geschäfte zu sprechen. Susette geht hinaus. Hölderlin hört zu, bis Neuffer bittet, mit dem Freund spazierenzugehen. Für solche Dinge sind wir Theologen nicht präpariert. Gontard lädt für den Abend ein, selbstverständlich sind auch Sie gebeten, Herr Hölderlin.
Wie der Ton wechseln kann. Wie einer sich verändert, wenn ein Schatten von Macht auf ihn fällt.
Neuffer ist von Susettes »hoher Schönheit« überwältigt.
Und sie liebt dich?
Ja.
Weiß es Gontard?
Es wird viel geschwätzt. Die ganze Stadt schwätzt. Vielleicht.
Und warum –?
Sprich nicht weiter, Neuffer.
Er genießt die vier Tage unter dem Schutz Landauers.
Du brauchst deine Freunde, stellt Susette fest, gleich bist du ganz anders.
Ich nicht, Liebe, die anderen sind es, die sich ändern. Ich bin nicht schuld, daß Landauer vermögend und angesehen ist. Ich habe Schuld daran, daß ich es nur zum Hofmeister gebracht habe, zu nicht mehr.
Und gleich wird es dir wieder kalt sein, sagt Susette. Ihr Hamburger Bruder Henry Borkenstein und dessen Frau haben sich zu einem mehrwöchigen Besuch angekündigt. Susette muß für deren Zerstreuung sorgen, eine Gesellschaft folgt der andern. Er ist ausgeschlossen. Kein Landauer zieht ihn hinter sich her. Susette läßt sich weniger sehen, abgelenkt, planend, »… dieses ganze Jahr haben wir fast beständig Besuche, Feste und Gott weiß! was alles gehabt, wo dann freilich meine Wenigkeit immer am schlimmsten wegkommt«.
(Manchmal kündigt sich in seinem Leben etwas an, das erst kommen wird. Ein Vorbote. Jeden Tag, ehe ich zu schreiben anfange, blättre ich in der »Chronik seines Lebens«, die Adolf Beck mit unvergleichlicher Kenntnis, jedem durch Briefe von und an Hölderlin oder durch andere Dokumente verbürgten Datum folgend, aufgeschrieben hat. Das ist Hölderlins Spur, das hat er erfahren, erlebt. Ich kann es, wenn ich mich anstrenge, an einem Tag lesen, sein ganzes Leben. Während des Lesens beginne ich mich an diesen und jenen
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