Härtling, Peter
sich und seinen Karl vor, überreichte Sinclairs Brief. Wer von Sinclair komme, sei stets vertrauenswürdig. Alles an diesem Mann war zu groß geraten, selbst Stirn, Augen, Nase. Sein Überschwang riß sie mit, das folgende Gespräch verlief eigentümlich gleichgestimmt und wirkte lang in Hölderlin nach.
Er könne sie bei sich nicht unterbringen, seine Wohnung sei zu klein. Ich werde Sie, wenn wir genug an uns haben, zu einem passablen Gasthof bringen. Er fragte sie aus, sie mußten über sich berichten. Ah, bei den Gontards, es heißt, er ist ein tüchtiger Mann und Madame ein Engel. Ist es so? Die Examinierung ist Hölderlin ein wenig peinlich.
Vom »Hyperion« habe ich nur gehört – Gutes! Bestes – das Fragment in der »Thalia« kenne ich, und einige Gedichte. Dann schildert Vogt, Unterbrechungen nicht erwartend, »seine Welt«. Auch wenn es für unsereinen so nicht aussieht, meine jungen Freunde, sucht die Welt doch unaufhörlich nach ihrem Gesetz, ihrem Gleichgewicht. Es ist ihr gegeben. Sie weiß es nicht. Sie ist nämlich ein Spiegelbild des Kosmos und seiner herrlichen, von einer Gotteskraft geschenkten Regel. Der Mensch ist derbewußte Teil des Kosmos. Das heißt noch lange nicht: sein wissender. Erst allmählich werden wir erkennen und diese Gesetze annehmen, werden wir imstande sein, das Kosmische wiederzugewinnen.
Hölderlin fragt: Das heißt also, daß der Menschengeist nach einer Übereinstimmung mit der Natur streben sollte?
Die Natur ist ein getreuerer Spiegel des Kosmos als der Mensch, der zurückfinden muß.
Und wenn die Kluft tiefer wird?
Dann fragt es sich, lieber Herr Magister, ob der Mensch den Widerspruch aushält und erklären kann.
Das geht in ihn ein. Zwar arbeitet er noch am »Hyperion«, aber seine Gedanken sind abgelenkt von einem vagen Plan, eben diese Ideen dramatisch vorzuführen, am Beispiel einer Figur, die ihn, seitdem er über sie in Hambergers »Zuverlässigen Nachrichten von den vornehmsten Schriftstellern« ausführlicher gelesen hatte, fast brüderlich anzog: der Philosoph Empedokles.
Vogt führte sie, wie versprochen, zu dem Gasthaus, wo sie in eine turbulente Szene gerieten: Ein angetrunkener republikanischer Offizier verlangte, gegen den Widerspruch des Wirts, noch mehr Wein. Der Offizier drang auf den Wirt ein, hätte ihn geschlagen, wären ihm nicht seine Begleiter in die Arme gefallen, er fluchte, fing unvermittelt an zu weinen.
Es sollte ein Glas zum Abschied sein. Sie verstehen uns nicht. Ihr Deutschen seid gegen uns. Weiß ich, ob ich morgen noch am Leben bin? Wir rücken aus, wir marschieren auf Frankfurt. Was hab ich von dem Rest Leben, wenn ich mich nicht einmal besaufen kann?
Der Wirt gab den anderen Soldaten eine Flasche, legteihnen aber nahe, nicht im Wirtshaus weiterzutrinken, sonst gerieten sie an eine Streife.
Hölderlin hatte die Auseinandersetzung, mit Mitleid für den Offizier, verfolgt.
Er fragte den Wirt: Ist es wahr, daß die Franzosen wieder ins Gefecht ziehen?
Ja, vor der Stadt hat Jourdan den größten Teil der Truppen versammelt.
Er fand, sie müßten den Aufenthalt abbrechen, zurück nach Frankfurt. Ich will nicht, daß sich die Mutter deinetwegen Sorgen machen muß, Karl. Es ist am besten, du packst in Frankfurt gleich deine Sachen, und ziehst weiter.
Auf dem Heimweg liefen sie zwischen die Linien. Die Kaiserlichen zogen sich auf Frankfurt zurück, in kleinen Trupps, denen die Verstörung anzumerken war. Viele Soldaten trieben requiriertes Vieh vor sich her. Die »Physiognomie« dieses Rückzugs, schrieb er, »sagte uns genug«.
Die Frankfurter Messe, die eben begonnen hatte, schwemmte Fremde ins Haus, Susette mußte sich um immer neue Gäste kümmern, fand nicht einmal Zeit, Karl zu verabschieden, außerdem drückte Gontard die Sorge, die Franzosen könnten erneut die Stadt erobern, ihm das Messegeschäft verderben.
Sie drangen mit ihrer Kavallerie vor und standen am 22. April vor dem Bockenheimer Tor. General Hoche, der diesen Armeeteil befehligte, hatte seiner Truppe nicht folgen können. Die Stadt, in der sich, der Messe wegen, unzählige Auswärtige aufhielten, rückte ängstlich zusammen. Gontard saß mit Geschäftsfreunden im kleinen Saal,bemühte sich, sie mit Kartenspiel abzulenken, Susette spielte Klavier, Hölderlin und Marie hatten die Kinder zu sich genommen, man wartete auf Gefechtslärm, auf die Eroberung. Man richtete sich ein, in dieser Belagerung gemeinsam den Mittag zu verbringen, als Gontard-du Bosc die
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