Härtling, Peter
Geliebte der Madame.
Er lief auf sein Zimmer, schloß sich ein. Susette sagte er nichts.
Ich gehe, hatte Marie ihm, beiläufig, während einer Unterhaltung, gesagt.
Du gehst, Marie? Hast du denn Ärger mit dem Haus? Aber nein, Hölder, ich heirate im Juli endlich meinen Louis. Er ließ sie unvermittelt stehen.
Sie rief ihm erschrocken nach: Aber freust du dich nicht? Er antwortete nicht.
Von nun an würde er mit Susette allein sein. Es würde keine freundliche Mitwisserin mehr geben, niemanden, der ihn, wenn Susette unter einem Wust von Gästen verschwindet, beiseite zieht, fröhlich beschwatzt.
Er verliert immer mehr.
Die Hochzeitsvorbereitungen versetzen die Kinder in höchste Aufregung. Sie reden von nichts anderem; die beiden kleinen Mädchen, Lene und Male, sollen die Schleppe tragen, Henry und Jette in der Kirche Blumen streuen.
Und was machst du, Hölder, fragt Male.
Ja, was mach ich?
Er macht ein Gedicht für die Marie, sagt Jette.
Das kann ich nicht.
Das kannst du, entscheidet Henry.
Wenn ich’s nur könnte.
Zur Hochzeit in der Katharinenkirche und zum Fest im Weißen Hirsch ist er geladen. Er fährt mit den Kindern in die Stadt. Maries Louis, der Freiherr Rüdt von Collenberg, gefällt ihm. Er trägt allerdings die Uniform der kaiserlichen Armee.
Marie hatte sich am Abend zuvor von ihm verabschiedet, Tränen in den Augen, hatte seine Hand an die Lippen gezogen, von seiner »zarten Seele« gesprochen und Schutz für ihn erfleht. Er hatte sich wie ein hilfloses Kind benommen.
Er geht am Schluß des Zuges. Die Kinder erfüllen ihre Aufgaben, werden von andern beaufsichtigt. Er setzt sich in die letzte Bank, denkt an nichts, denkt sich das ganze vergangene Jahr in einem einzigen Satz, den er nicht festhalten kann, sieht der Zeremonie zu, meint, obwohl die Orgel braust, daß es ein Fest unter Stummen sei, eine unaufhörliche, sinnlose Folge von Umarmungen, Gratulationen, Umarmungen. Susette steht neben dem Freiherrn. Auch sie könnte eine Braut sein. Sie soll das Glück der anderen bezeugen. Nicht seines. Sie hat nicht ein einziges Mal zu ihm hingesehen. Beim Auszug ruft Marie ihm zu: Adieu, Hölder. Die es hören, sehen sie erstaunt an. Der Freiherr lächelt. Sie wird ihm erzählt haben. Er wird viel wissen. Aber Susette schaut wieder nicht auf. Er läuft über die Zeil zum Eschenheimer Tor. Es ist still da draußen. An einem Zaun lehnt ein Gärtner, schimpft mit sich selbst. Das Sommerhaus ist leer. Alle sind zur Hochzeit, auch das Personal. Das Fräulein Marie heiratet einen Freiherrn! Er besitzt ein Schloß in Bödigheim im Badischen! Das Fräulein Marie wird Schloßherrin! Das Fräulein Marie hat Glück gehabt! Dem Fräulein Marie wollen wir es nicht neiden! Nein.
Er setzt sich in die Laube. Wieder legt sich Tonlosigkeit über alles. Die Vögel singen; er hört sie nicht. Der Wind bringt die Blätter zum Rascheln; er hört es nicht. Er sieht den alten Diener Weidemann zum Tor gehen; er hört die Schritte nicht. Er hat Papier und Feder mitgenommen.
Nach Hause kann er nicht schreiben, doch Neuffer gegenüber will er sich aussprechen. Wenigstens einer muß ihm zuhören: »Ich habe Dir lange nicht geschrieben. Es ist auch oft unmöglich. Indes ich Dir sagen will: so ist es! ist es schon anders geworden. Das Schicksal treibt uns vorwärtsund im Kreise herum, und wir haben so wenig Zeit, bei einem Freunde zu verweilen, wie einer, dem die Rosse davongegangen sind … Du fehlst mir oft, mein Bester! Philosophieren, Politisieren u. s. w. läßt es sich mit manchem. Aber die Zahl der Menschen, denen man sein Schwächstes und sein Stärkstes offenbart, die mag man nicht so leicht verdoppeln. Ich hab es auch fast ganz verlernt, so ganz vertrauend einem Freunde mich zu öffnen. Ich möchte bei Dir sitzen, und erst an Deiner Treue mich recht erwarmen – dann sollt es wohl von Herzen gehn! – O Freund! ich schweige und schweige, und so häuft sich eine Last auf mir, die mich am Ende fast erdrücken, die wenigstens den Sinn unwiderstehlich mir verfinstern muß. Und das eben ist mein Unheil, daß mein Auge nimmer klar ist, wie sonst … O! gib mir meine Jugend wieder! Ich bin zerrissen von Liebe und Haß.«
Susette fragt ihn jetzt nicht aus. Ihre Zärtlichkeit ist heftiger als sonst.
Mehr und mehr nimmt der Plan des »Empedokles« Gestalt an. Es soll ein Trauerspiel werden, und Empedokles sieht er als »einen Todfeind aller einseitigen Existenz«.
Von Schiller erhält er, nach langem, Nachricht; er
Weitere Kostenlose Bücher