Härtling, Peter
Hinweis zu erinnern. Meine Phantasie will sich mit einem Satz nicht zufriedengeben, kombiniert, stellt um, verklammert, wiederholt, läßt von Personen nicht ab, die nur kurz auftauchen, verschwinden und erst später wichtig werden. Das hat alles nichts oder nur sehr wenig mit dem zu tun, was in dem Augenblick, den ich schreibend zu rekonstruieren versuche, in seinem Kopf vorging. Also nehme ich Abstand, erfinde ihn, bewege ihn,lasse ihn so wenig wie möglich wissen von dem, was ich weiß, schreibe, zum Beispiel, in Klammer: Mitte Oktober 1797 besucht ihn der dreiundzwanzigjährige Literat Siegfried Schmid aus Friedberg in der Wetterau. Er ist mit Sinclair bekannt, bringt dessen Empfehlung mit, ist auf dem Weg nach Basel, wo er sich nach einer Stellung umsehen möchte. Die Urteile über Schmid gleichen sich: sein schwärmerischer Größenwahn, sein ungestörtes Selbstbewußtsein müssen jeden mehr oder weniger enerviert haben. Allerdings gelang es ihm stets, Interesse auf sich zu ziehen. Schiller förderte ihn eine Zeitlang, bis, wie auch im Falle Hölderlin, Goethe sich scharf äußerte, und Schiller sich wieder zurückzog. Goethes Verdikt ist genauer und ausführlicher als bei Hölderlin und, denkt man den späteren Lebensweg Schmids hinzu, bemerkenswert hellsichtig: »Schmid von Friedtberg ist bey mir gewesen, es war keine unangenehme aber auch keine wohlthätige Erscheinung … ich fürchte, es ist nicht viel Freude an ihm zu erleben. Voraus also gesetzt, daß es kein gedrückter Mensch ist, so ist es ein böses Zeichen, daß sich keine Spur von Streben, Liberalität, Liebe, Zutrauen an ihm offenbart. Er stellte sich mir in dem philisterhaften Egoismus eines Exstudenten dar …«
In Basel hielt Schmid es ein Jahr als Hofmeister aus, schloß sich dann als Kadett dem österreichischen Heer an, erhielt nach einem weiteren Jahr den Abschied, war wiederum Hofmeister, promovierte während dieser Zeit in Erlangen, kehrte 1804 nach Hause, nach Friedberg zurück, wo ihm die Familie offenkundig wegen seines unsteten Lebens Vorwürfe machte und ihn dermaßen in die Enge trieb, daß er für ein halbes Jahr ins Hospital mußte und dann von Sinclair aufgenommen wurde. Sinclairsorgte auch dafür, daß er 18o8 wieder in die österreichische Armee, in das Husarenregiment des Erbprinzen von Homburg, eintreten konnte. 1819 wurde er als Rittmeister auf eigenen Wunsch pensioniert und lebte bis zu seinem Tode, 1859, in Ungarn und in Wien. Mit seinen Dramen, die er im Alter schrieb, hatte er keinen Erfolg. – Dieser Mann besuchte Hölderlin, und ich frage mich, weshalb ihn dessen Anmaßung und allzu rasche Vertraulichkeit nicht abschreckten. Vielleicht war er damals über jeden Besuch froh. Vielleicht blendete es ihn, daß Schmid seine Gedichte rühmte und sich vorgenommen hatte, den »Hyperion« zu lesen, was er dann in seinem ersten Brief an Hölderlin bestätigt: »Ich fange an den Hyperion zu lesen, – Bruder! Bruder! – der Sinclair sah in dem Buch ein personifiziertes Moralsystem. Das Gott erbarm! was werden die Andern alle drinn erblicken!« Dieser Ton war ihm vertraut, erinnerte ihn an den stürmischen Austausch zwischen Nast oder Neuffer oder Magenau und ihm. Mit Schmid kam Jugend in seine Einsamkeit. Darum war er willkommen, die Verbindung würde halten. Und für mich, der ich eben mehr weiß, tritt er als Bote auf. Dieser unpolitische Schwärmer kündigt mit seinem Besuch alle jene an, die, nur ein Jahr darauf, zum Homburger Kreis zählen, die neuen Freunde: Muhrbeck, Böhlendorff, Baz, Horn, Georgii. Sie alle sind Denker und Täter. Sie alle leben jene Spannung bis zum äußersten aus, die Hölderlin zunehmend schreckt, für die er aber gerade jetzt, im »Empedokles«, den Grundtext schreibt. – Da bleibt dann der junge Herr aus Friedberg aufgeregt am Rand.)
Hölderlin weiß, daß seine Lage sich nicht mehr verbessern kann. So sehr er sich mit seiner Liebe zu Susette auch demAnspruch der Wirklichkeit widersetzt, so sehr er sich wehrt gegen die zahllosen Kränkungen. Es ist nicht lange her, daß er darüber hinwegsehen, sich mit der allgemeinen Hoffnung verschwören konnte. Nun zieht sich alles um ihn zusammen. Wenn er Gesellschaft sagt und schreibt, meint er die, die ihn unmittelbar umgibt. Er opponiert gegen diese Bedrückung, gegen diesen »herrschenden Geschmack«: »Je angefochtener wir sind vom Nichts, das, wie ein Abgrund um uns her uns angähnt, oder auch vom tausendfachen Etwas der Gesellschaft und der
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