Härtling, Peter
mehr oder weniger eitel ihre Uniformen zur Schau trugen: sein Gelächter, dieses unverkennbare satte Wiehern. Sinclair ließ ihn gar nicht zur Ruhe kommen, stellte ihn vor, reichte ihn herum, hänselte, war sarkastisch: Laß dich nicht täuschen, Hölder, hier wird nur gespielt, geblendet, was in Wirklichkeit passiert, merken die meisten der hier Anwesenden nicht. Ein paar Franzosen und Österreicher spinnen die Fäden, unsereiner ist dazu berufen, sich zu wundern.
Er übertrieb, denn am Rande des Kongresses hatten sich Gruppen gebildet, die nicht ohne Einfluß waren und durchaus für die Stimmung in den von ihnen vertretenen Ländern sorgen konnten. Hölderlin war das diplomatische Gepränge ungewohnt, auch der Jargon, mit dem man sich untereinander verständigte. Die Stadt, eine sonst wohl arg verschlafene Residenz, platzte von Leben. Der Kongreß, dieses Treffen der Einflußreichen und solcher, die sich einbildeten, es zu sein, hatte Händler und Diebe angezogen, vor allem aber viele junge Frauen, die sich unverhohlen anboten und deren Dienste, je länger der Kongreß dauerte, um so bedenkenloser in Anspruch genommen wurden. Sie waren auch die Zuträger von Nachrichten und Gerüchten.
Wer wissen will, was die Österreicher noch nicht vorhaben, der muß mit einer Dirne nur die Nacht verplaudern, konstatierte Muhrbeck, dem er flüchtig einige Male in Jena begegnet war und der nun hier das Wort führte. Muhrbeck gehörte zu den zahlreichen selbsternannten Beobachtern, Stimmungsmachern, Souffleuren. Mit ihren nächtelangen Diskussionen stimulierten sie die Unterhändler, die sich über das Hin und Her ärgerten und sich den Franzosen von vornherein unterlegen sahen. Sinclairs Runde hielt Abend für Abend in der Gaststube eine »Ecke« besetzt, die berüchtigt war und der man nachsagte, dort werde mehr philosophiert als politisiert. Hölderlin waren zumindest die Namen vertraut; nun lernte er sie kennen. Muhrbeck war mit seinen dreiundzwanzig Jahren der Jüngste, allerdings schon weit herumgekommen und wie der Sekretär des dritten preußischen Gesandten, Fritz Horn, Mitglied des Bundes der freien Männer in Jena gewesen. Beide wiederum waren befreundet mit dem Poeten Böhlendorff, den Hölderlin kurz danach in Homburg kennenlernte. Muhrbeck, dessen Vater in Greifswald Philosophie lehrte und der später das Amt seines Vaters übernahm, hielt enge Freundschaft zu Ernst Moritz Arndt, was ihn wiederum mit dem Sekretär der Vorpommerschen Gesandtschaft, Johann Arnold Joachim von Pommer-Esche verband, der seine Jugend mit Arndt in Stralsund verbracht hatte. Dieses Netz von Beziehungen riß nicht, hielt allem Druck stand, und Hölderlin mußte sich oft auf die Redeweise der Freunde einstellen: sie unterhielten sich häufig in Abkürzungen, Hinweisen auf gemeinsame Vergangenheit. Er hörte sich rasch ein, hatte sein Vergnügen an parodistischen Verzerrungen von Fichtes Gedanken, am spielerischen Umgang mit der Kantschen Terminologie. Alle lösten sie sich mit Witz und politischer Aktivität von ihren geistigen Vätern und Förderern.
Neben Sinclairs Freunden, die auch die seinen wurden, lernte er andere Delegierte kennen, darunter den Abgeordneten der württembergischen Landstände, Jakob Friedrich Gutscher, der sich in den jungen schwäbischen Literaten vernarrte, ihn zu Spaziergängen einlud und in sein Vertrauen zog. Sinclair unterstützte diese Bekanntschaft, denn von den Württembergern erhoffte man sich am ehesten revolutionäre Einsicht, und zu Gutschers Kampfgefährten rechnete man Baz, dessen aufrührerische Schriften Hölderlin sich über den Bruder verschafft hatte und der nun öfter in Rastatt erschien.
Während Gutscher, leidenschaftlicher Kenner und Ausleger der schwäbischen Verfassung, Distanz zu den jungen Leuten hielt, war Baz leicht zu gewinnen. Er war sich mit Sinclair einig, daß nur eine »gewaltsame Umkehrung« helfen könne. Gutscher hingegen wünschte mit einer gründlichen Kenntnis der Verfassung »den Gemeingeist« zu beleben.
Auf vieles hörte Hölderlin nicht; manchmal saß er, mit geschlossenen Augen, Pfeife rauchend; manchmal umwarben ihn Sätze, setzten sich fest, und es war gleichgültig, wer sie gesprochen hatte. Dann mischte er sich, zu aller Überraschung, ein. Muhrbeck, dieser »rastlosen Seele«, gelang es am ehesten, ihn herauszufordern. Wenn sie aneinandergerieten, wurden die übrigen still, und es traten noch andere hinzu, um dem Streitgespräch zu lauschen.
Nein, Hölderlin, es
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