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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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geht mir nichts über das Individuum als treibende Kraft. Es macht Geschichte und es ist die Geschichte.
    Wäre es so – Hölderlin spricht wie zu sich selbst, erklärt sich noch einmal, was er geschrieben hat, entfernt sich von dem ihn mitunter beengenden Wirklichkeitssinn Sinclairs –wäre es so, Muhrbeck, hätten wir zwar Geschichte, doch wir wüßten sie nicht. Und sie hätte uns nicht. Ich will dem Individuum nicht seinen Rang bestreiten, aber es kann in die Geschichte nur eingehen als ein Teil, ein Teilchen, das sich auf ein Ganzes bezieht. Und das Ganze kann und will nicht wissen, wonach jedes einzelne trachtet.
    Das sagst gerade du, der Dichter des »Hyperion«, des handelnden und liebenden Einzelnen!
    Ihr habt meinen »Hyperion« offenbar alle unwissend gelesen. Er droht doch dem Ganzen verlorenzugehen – darum sein Schmerz. Wenn ihr hier politisiert, Freunde, so doch nicht, um das Einzelne zu bestärken, sondern um einer Idee willen, einer Vision. Ihr bezieht eure Erfahrungen auf etwas, das noch nicht ist, das ihr aber haben wollt, ihr müht euch, Gedanken zu vereinigen zur Idee. Die Geschichte, die nichts war, die jeden einzelnen von uns quälte, könnte zu einer werden, die wir sind. Das Subjekt wird dem Objekt allein gerecht, wenn es dieses ausfüllt, endlich erfüllt.
    Prägt uns denn nicht eben dieser Widerspruch?
    Nicht dieser, Muhrbeck. Du bist ein Demokrat, ich bin es auch. Wir alle hier wollen es sein. Sind wir’s denn wirklich? Die wahre Demokratie, Lieber, der wir zustreben, löst nämlich den Widerspruch zwischen Mensch und Natur, zwischen Plan und Idee, zwischen Subjekt und Objekt auf …
    Er spricht vom Paradies, ruft Fritz Horn. Er ist ein verkappter Theologe.
    Wenn du das für Theologie hältst, dann soll die Politik meinethalben zur Theologie werden oder umgekehrt. Du hast recht, ich meine ein Paradies. Ich meine das Vaterland des verwirklichten Menschen, in dem die Idee zum Recht geworden ist und das Recht zur Idee – es ist die wiederhergestellte Übereinkunft.
    Und wann, mein Hölder? Sinclair fragt mit großer Zärtlichkeit.
    Hölderlin schaut vor sich hin, zuckt mit den Schultern, lächelt. Kann ich es wissen, Isaac, da wir doch Menschen sind?
    Er hat ihnen die Spannung genommen, sie lachen, prosten sich zu, fühlen ein Glück, das sie noch nicht haben, richten sich für diese Stunde darin ein.
    So sollte es bleiben.
    Er muß nach Homburg, nach Frankfurt. Susette wartet auf ihn. Er darf den ersten Donnerstag im Dezember nicht versäumen, diesen Tag, den er vier Wochen lang ersehnt, der in seiner Phantasie zu einem Fest wird, und dann ist es nur eine halbe Stunde voll gehetzter Wörter, die nichts mitteilen können, flüchtiger Zärtlichkeiten, die ihn aushungern.
    Ich muß gehen.
    Sinclair und die anderen wollen ihn halten.
    Er hört sie nicht einmal. Er hastet durch einen Alptraum.
    Wie immer übernachtet er in Frankfurt. Wie immer stiehlt er sich zum Weißen Hirsch, fürchtend, daß ihm Bekannte begegnen könnten, am Hintereingang spähend und horchend, ob der Weg frei ist. Daß er sich so benehmen muß, kränkt ihn.
    Die Tür ist angelehnt. Sie stehen sich gegenüber. Bald finden sie keine Wörter mehr.
    Soll ich dir erzählen?
    Was machst du?
    Wen hast du in Rastatt gesehen?
    Dein Gedicht …
    Ja …
    Male lernt jetzt sticken.
    Und Henry?
    Du mußt gehen.
    Ja. Schreibst du mir?
    Ja.
    »Es bleibt uns nichts, als der seeligste Glaube aneinander, und an das allmächtige Wesen der Liebe das uns ewig unsichtbar leiten und immer mehr und mehr verbinden wird.«
    Es ist diese einzige Stimme, die ihn beherrscht, wegreißen will, taub macht. Wenn er ihre Briefe liest, hört er tagelang nur sie. Was ihn umgibt, ist für ihn nicht vorhanden. Hin und wieder wehrt er sich, lenkt sich ab, besucht Sinclairs Mutter, wiederholt sich die Rastatter Unterhaltungen, versucht, mit dem »Empedokles« weiterzukommen.
    Er geht viel spazieren, genießt den Frost. Allmählich findet er sich, kann wieder eigene Gedanken fassen. Es wird ein Auf und Ab bleiben.
    Johanna hatte ihn aufgefordert, zum zweiundsiebzigsten Geburtstag der Großmutter Heyn ein Gedicht zu schicken. Mit keinem anderen Geschenk könnte er sie so erfreuen. Es fällt ihm nicht leicht, und er ist mit den Versen nicht zufrieden, aber es werden Vergangenheiten geweckt, er sieht sich mit Köstlin lernen, weiß plötzlich ganze Vokabelreihen wieder, hört die Mutter über den Hof rufen, geht mit Karl zum Grasgarten, riecht das Treppenhaus,

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