Härtling, Peter
Stimmung der Zeit begünstigte ihre Flucht: Aus ihrem unerfüllten Begehren abstrahierte sie ihren Hyperion, er seine Diotima.
Die Wunden schlossen sich nicht.
Er hat ihr fast zärtlich zu erkennen gegeben, daß er sie verstand. Zu ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag widmete er ihr ein Gedicht: »O daß von diesem freudigen Tage mir / Auch meine Zeit beginne, daß endlich auch / Mir ein Gesang in deinen Hainen, / Edle! gedeihe, der deiner wert sei.« Darauf antwortet sie ihm kurz und streng, stemmt sich mit höflichen Sätzen gegen das, was sie sagen, flüstern, schreien möchte, und ganz kann sie es nicht auskühlen: »Ihre Laufbahn ist begonnen, so schön und sicher begonnen, daß sie keiner Ermunterung bedarf; nur meine wahre Freude an Ihre Siege und Fortschritte wird sie immer begleiten. Auguste –«
Den zweiten Band des »Hyperion« schenkt er ihr mit einer Widmung, ebenso die Sophokles-Übersetzung.
Und als Sinclair den bereits Kranken wieder nach Homburg holt, er, ohne Pflichten, als Hofbibliothekar angestellt wird, läßt sie ihm ein Klavier auf sein Zimmer stellen, denn sie weiß ja mehr von ihm: auch, daß er sich an der Musik erholt, daß er seiner Bewegung beim Musizieren Herr wird.
Sie hat ihn tiefer geliebt, als sie zugeben durfte.
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III
Der kleine Kongreß
Sinclair bereitete sich auf seine Mission in Rastatt vor. Der Landgraf hatte ihn als seinen Vertreter für den Kongreß bestimmt. Seine Aufgabe war nicht leicht. Die Stimmung war gegen die kleinen, über die Kriegsschäden klagenden Fürstentümer. Das Reich hatte keine Kraft mehr, sich zu widersetzen. Die Österreicher nannten Rastatt höhnisch »eine Börse«. Vielen Delegierten waren die Verhandlungen und der Schacher allerdings weniger wichtig als die Konspiration mit Gleichgesinnten. Dabei taten sich, gefördert von einflußreichen Franzosen, besonders die Sprecher der württembergischen Landstände hervor, die die Bevölkerung gegen den Herzog aufzuwiegeln versuchen. Sinclair war Feuer und Flamme, freute sich, einige Freunde wiederzusehen, lud Hölderlin ein, gleich mitzureisen.
Ich verspreche dir, dich nicht mit politischen Geschäften zu belästigen. Du wirst genügend Zeit für dich haben. Und du kannst mit mir im »Bären« wohnen. Ich bitte dich!
Hölderlin dachte an Susette. Es war das erste Mal, daß ersich gleichsam aus ihrem Bereich entfernte. Sinclair hingegen legte sein Zögern anders aus: Er brauche sich der Ausgaben wegen nicht zu sorgen.
Du beschämst mich, wie so oft, Isaac. Aber laß mich dir nachkommen. Es fällt mir, du weißt es, alles schwerer als früher.
Er reiste Sinclair eine Woche später nach. So, auch ohne Freund, der für ihn den Kontakt nach außen bedeutete, konnte er sich ganz verschließen. Zu seiner Verblüffung wurde aus der Leblosigkeit, gegen die er mühsam gehandelt hatte, eine wunderbare, sprechende Ruhe. Alle Sätze, die er schon einmal geahnt, auf die er gehofft hatte, stellten sich wie selbstverständlich ein. Er arbeitete ohne Störung, und jeder einzelne Vers zog ihn aus der Monate dauernden Wehrlosigkeit. »Und daß mir auch, zu retten mein sterblich Herz, / Wie andern eine bleibende Stätte sei, / Und heimatlos die Seele mir nicht / Über das Leben hinweg sich sehne // Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!«
Er spielte mit dem Gedanken, von Rastatt aus nach Nürtingen zu wandern, endlich die Heimat wiederzusehen, kündigte sich an, wünschte der Mutter die neu gewonnene Gelassenheit vorzuführen, unterließ dann aber, Johanna enttäuschend, den Abstecher. Das Wetter sei schlecht, die abgelegeneren Wege in Württemberg würden noch immer von Räubern unsicher gemacht.
Er hatte, dank Sinclairs Großzügigkeit, genügend Mittel, um mit der Post nach Rastatt zu fahren. Dennoch war die Reise beschwerlich. Ihn plagten Nervenschmerzen, die vom Schädel bis in den Rücken strahlten, jeder Stoß der Kutsche marterte ihn. Überdies war es kalt, regnete und schneite; die schützende Decke wurde rasch feucht. Erfürchtete, mit Fieber in Rastatt anzukommen. Kaum da, hatte er alles vergessen, fühlte sich wieder wohl. Im Gasthof »Zum Bären« schien offenbar ein Fest ohne Ende gefeiert zu werden. Er hatte Mühe, sich nach Sinclair durchzufragen. Er sei auf seiner Kammer; nein, noch im Schloß, hieß es erst, ein Sachse behauptete, den Herrn von Sinclair seit zwei Tagen nicht mehr gesehen zu haben, doch dann hörte er ihn, selbst hier, in dieser lärmenden Versammlung von Männern, die
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