Härtling, Peter
Klosterbauten. Das Geschriebene baut nach, baut neu. Bis zum wiederholten Augenschein habe ich mir eingebildet, daß »die Ulme das alternde Hoftor umgrünt«, wie es der einstige Klosterschüler Hölderlin erinnert, aber was in der Erinnerung so mächtig und grün erschien, war die Platane auf dem Hof, waren die alten Kastanienbäume. Nicht Hölderlins Ulme. Sein Blick war zu meinem geworden. Dennoch habe ich das Kloster über Jahre mit den Augen eines anderen gesehen, der hier seine Kindheit verbracht und sie in einem Fragment gebliebenen Buch erzählt hatte. Es ist Fritz Alexander Kauffmanns Chronik: »Leonhard«. Kaufmanns Vater hatte das Kloster erworben und in einem der Gebäude eine Senffabrik eingerichtet, die es an einem anderen Ort noch heute gibt. Kaufmann besaß eine hybride Erinnerungsgabe. Schon die Bilderwelt des Dreijährigen ist von einem immensen Reichtum. Später wurde er Kunsterzieher, während der Diktatur Hitlers aus dem Amt entlassen, schrieb ein Buch über Rom, befaßte sich meditierend mit Hokusai, dem japanischen Maler und verunglückte kurz nach dem Kriegsende tödlich. Sein Buch ist mittlerweile vergessen.
»Diese Straße kommt vielgekrümmt aus dem Dorf herunter und steigt, nachdem sie die Körschbrücke hinter sich hat, kräftig an bis zu der uralten Ulme bei der Haupteinfahrt des Klosters …«
Weil es kein Tor mehr gibt, das ich erwartete, ist die Platane für mich wichtiger geworden als der Baum in Hölderlins Zeile. Diese zwiefache Erinnerung an einen Ort ist nicht vereinbar. Zeit und Blick trennen sie voneinander.
»Bis zu der Haupteinfahrt des Klosters, dessen Torbogen heute verschwunden sind. Die Friedhofmauer und die Zwinghofmauer, welche die Rampen um den Klosterhügel in schöner Symmetrie abschranken, ergeben zusammen mit dem sonstigen Gemäuer die wirksamste Umrahmung. Der Eindruck einer hochgelegenen und allen entrückten Insel wird noch vollkommener dadurch, daß der Klosterbereich nach rückwärts durch einen Weiher wie durch einen Grenzgraben vom Hinterland abgetrennt wird. Kunstlos, in reizvoll wechselndem Verfahren ist die glücklichste Abgeschiedenheit erreicht.
Der Klosterhof selbst, begrenzt durch Kirche mit Klausur, das Forsthaus und das Pfarrhaus mit der alten Scheune, öffnet sich auf eine ganze Anzahl von Nebenhöfen. Der eine liegt links von der Kirche und endigt gegen den Talraum hinaus in der Terrasse des Propsteigärtchens. Der zweite ist der alte Kreuzgarten, dessen vierter Flügel mit einem Teil des alten Klausurgebäudes niedergelegt wurde.«
Wieder kannte Hölderlin nicht alles, was ich kenne, das Forsthaus zum Beispiel, doch das Klausurgebäude war für ihn erfahrene Wirklichkeit.
»Diese mannigfachen Platzräume erhalten noch ihren Reiz durch Bäume, Büsche, rankendes Grün. Der Klosterhof wird, in schönem Einklang mit dem Kirchturm, beherrscht durch die Kastanienbäume und eine riesige Platane; den Zwinghof erfüllen die Wipfel alter Holunder und aus den Terrassengärten gegen den Meierhof zu steigt eine mächtige Gruppe fast hundertjähriger Fichten …«
Es ist eine Idylle. Für Hölderlin war es keine.
Ich muß von Kälte schreiben. Von Angst vor Kälte, Ratten, Lehrern, von tiefer Müdigkeit, ich muß von Kindern schreiben, die morgens um fünf aus den Betten taumeln, nachdem sie ihr Kinn von den brettharten Decken gerissen haben. Buben, die, weil sie vom Frost steif sind, zueinander in die Betten schlüpfen und plötzlich ihren Leib entdecken, zärtlich zueinander werden und ihr gottloses Tun vor den Lehrern verbergen. Sie werden, quer durch Latein, Griechisch, Hebräisch, Rhetorik, in Alpträume getrieben. Freundschaften bleibenda eine Hilfe. Du derfsch mir den Chrischtoph net wegnehme. Der g’hört mir.
Die Mutter hat ihn mit dem Wagen hingebracht. Diese sieben Kilometer von Nürtingen nach Denkendorf hätte er auch zu Fuß wandern können. Aber das ist ja ein Lebensabschnitt, ein wichtiger Tag, für die Mutter ein Stolz, und ein solches Datum prägt sich einem ein. »Ich bin am 20. Oktober 1784 nach Denkendorf gekommen.« Mit ihm sind es weitere achtundzwanzig Alumnen und sechs Hospitanten.
Er hat das Kloster schon gekannt, hat die Häuser, die Bäume gegen einen Sommerhimmel gesehen, ein Bild, das ihn erwärmte, und er erwartete Freundlichkeit.
Aufregung macht ihn stumpf. Er läßt sich hin- und herstoßen. Die Mutter verhandelt mit dem Propst Erbe, dem Vorsteher, überreicht dem wohl auch ein Geschenk, das er noch als Geschenk
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