Härtling, Peter
So stellte er sich einen jungen Dichter vor. (Vielleicht hatte ihn die Tante auch auf Hölderlin verwiesen: wenn er schon Umgang mit den Alumnen suche, solle er sich an Fritz Hölderlin halten, das sei ein feiner, wohlerzogener Bub.) Sein Anblick hat nicht nur Nast bewegt. Häufig wird von Hölderlins Schönheit gesprochen. Noch seinen Stiftsgenossen kam es, wenn er vor Tisch auf und ab ging, vor, »als schritte Apollo durch den Saal«.
Nast wird sich nicht gleich getraut haben, den Versunkenen anzusprechen, und so malte er es sich in Gedanken aus, diesen Jungen als Freund zu erwerben. Schließlich würde er es sein, der Hölderlin aus der Maulbronner Vereinsamung löste (da konnte Louise nicht helfen), der Hölderlin zum erstenmal das Gefühl gab, bewundert und verstanden zu werden. Einen Ebenbürtigen zur Seite zu haben.
Er tritt auf Hölderlin zu, geht einige Schritte mit ihm, stellt sich vor, und bei dem Namen Nast horcht der Angesprochene auf.
Ob er mit dem Kammerrat Nast verwandt sei. Er ist mein Onkel.
Und wo er so plötzlich herkomme?
I schaff hier in d’r Näh; i ben Skribent auf ’em Leonberger Rathaus. Er sagt es leise, sich wieder seiner Herkunft schämend.
Hölderlin sagt dazu nichts.
Was Immanuel trotzig hinzufügen läßt: I bin oiner von de arme Naschts.
Worauf sich Hölderlin, zu seiner Überraschung, bei ihm unterhakt: Wir könnten Freunde werden.
In dieser Freundschaft war Nast nicht der arme, geistig Unterlegene. Er war Hölderlin gewachsen, an Lebenserfahrung und Einschätzung von Wirklichkeiten bei weitem überlegen, und selbst als Leser schlug er den Alumnen, denn nicht die »Alten« waren seine Lektüre, sondern Klopstock, Schubart, Schiller. »Die Räuber«, den »Don Carlos« lasen sie gemeinsam. Immanuel öffnete ihm das Nastsche Haus. Er ist ihm nicht weniger wichtig als Louise; als Gesprächspartner hat er ihn nötig, als Freund, denn endlich öffnet sich um eine Handbreit der Vorhang zur Welt. Nicht, daß die Alumnen ohne Information geblieben waren; sie hatten dieses und jenes gehört, doch am häufigsten waren die Nachrichten über das Befinden des Herrscherpaars, waren die Erlasse des Herzogs, die sie faktisch betrafen, kujonierten und duckten; dagegen aufzumucken, war zu gefährlich. Weshalb Schiller fliehen mußte, das wußte Hölderlin, wie er sich gegen den Tyrannen gewandt hatte, das war schon Legende, und auf derersten größeren Reise im folgenden Jahr würde Hölderlin einige Stationen dieser Flucht durchaus andächtig besuchen. Offen darüber zu sprechen, wagte man kaum. Es blieb Getuschel auf dem Dorment. Die Geschichte von Schubarts tückischer Gefangennahme in Blaubeuren durch den Obristen Varnbühler und seiner Kerkerhaft auf dem Asperg war selbst jedem Kind im Land bekannt. Ein Held, dem nicht zu helfen war, dessen Lieder und Gedichte man sang.
Das waren die Heroen Nasts. Die Hölderlins waren sie nicht. Und wenn, dann gleichsam ohne schmutzigen Rand. Wahrscheinlich hat er neben den Gedichten Schubarts – und die »Fürstengruft« wird ihn aufgewühlt, gegen die Gewalt aufgebracht haben – in den Zeitschriften Porträts des Geschmähten und Gerühmten gelesen. Sie kitteten, glichen aus, waren im Schmeichelton der Zeit gehalten: »Übrigens ist für so einen lebhaften Geist, wie Schubarts, freilich die lezte Veränderung eine schwere Aufgabe. Aber zugleich auch Muße genug, die Gründe dazu in und ausser sich aufzusuchen, wenn er ein Denker und großer Geist ist, den Muth eines Mannes zu zeigen, und den Trost der Weltweisheit zu nüzen … Wir hoffen und wünschen, ja wir wissen es gewiß, daß Schubart und die Seinigen mit der Zeit Ursache haben werden, GOtt, ihn, den nichts geschicht und den gnädigsten Fürsten über ihre Führungen zu preisen.«
Ähnliches mochte er gelesen haben, von seinen Lehrern gehört. Dennoch, träumte er nicht damals schon von einer besseren Gerechtigkeit, dem notwendigen Ausgleich, hatte er nicht Hoffnungen für das Menschengeschlecht?
Er träumte; doch er war geübt, derart waghalsige Träume für sich zu behalten. Da tauchte nun einer auf, der offenredete, der glühen konnte, der anders sah, sehen mußte, als er. Wenn Immanuel sich erzürnte über die Prunksucht des Herzogs, über die Seelenverkäuferei des Landesherrn, wagte Hölderlin kaum zuzustimmen. Er hörte hin. Er erinnerte sich, wie er an der Hand Goks aufs Rathaus neben der Lateinschule gegangen war, stolz auf den mächtigen Vater, wie im Treppenhaus die
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