Härtling, Peter
beinah kein Wort reden konnte – wie ich zitternd kaum das Wort – Louise hervorstammelte – das weißt Du – Bruder – das hast Du selbst gefühlt.« Und während er sich bekennt, kehren alle die Aufregungen der vergangenen Monate in sein Gedächtnis zurück: wie er bemerkte, daß auch Bilfinger Louise anbetete, ohne ihr freilich je zu begegnen, wie er Bilfinger gram war und der nicht wußte, weshalb, auch Louise ahnungslos seinem Verdacht ausgesetzt war; wie er Bilfinger endlich stellte und der ihr »freiwillig entsagte«; wie seine Unsicherheit immer mehr wuchs, ob sie ihn denn wirklich liebe; wie Lehrer und Mitschüler ihn für »gefährlich melancholisch« hielten; wie er endlich, nach der Entbehrung eines Monats, »mit Louise weinte«; wie er, auf dem Weg nach Ölbronn, Louise in den Garten gehen sah, über ein Mäuerchen sprang, den verdutzten Immanuel stehen ließ, ihr nachlief, »und jetzt, Bester, jetzt bin ich der Glücklichste auf Erden«, was kaum länger dauerte als die Nacht, in der er diesen Brief schrieb, denn schon hatte er Louise derart beunruhigt, daß sie in einem Gedicht die Trennung vorausahnte: »Lauert schon das bange scheiden, / Wie ein Dieb auf unser Glück, / und der frühen Trennung leiden / Trüben Deiner Freundin Blik« – in diesen Versen ist, wenn auch ärmer, eine ähnliche Melodie wie in denen Marianne von Willemers, der Suleika Goethes. Solche Lieben wissen von Anfang an ihr Ende.
Sie treffen sich. Sie beteuern sich ihr Glück. Es sind Szenen wie auf alten, nicht sonderlich guten Bildern, »nachdem Geschmack der Zeit«: sie stecken, für mich, im Kostüm, das für sie einfach Kleidung war, sie erstarren in Gesten, die mir die Bilder lächerlich genau eingeprägt haben, sie lustwandeln in Gärten, auf gekiesten Wegen, verbergen sich in Lauben und im Gebüsch. Aber was er in Briefen schreibt, ist ohne Dinglichkeit, ohne Nähe. Nur das Mäuerchen, über das er sprang, als er sie sah, kenne ich durch ihn, eine niedrige, wahrscheinlich schon verfallene Felssteinmauer, »auf dem Weg nach Ölbronn«, den ich auch kenne, ohne eine derartige Mauer gesehen zu haben. Wieder beschreibe ich, was vergangen, verschwunden ist.
Den sechzigsten Geburtstag Carl Eugens »darf« er mitfeiern, ein Gedicht vortragen, er hat die Ehre, als Dichter aufzutreten. Das Frühjahrszeugnis ist besser, die Sitten werden mit »fein« zensiert. In der Ostervakanz wiederholt er eine Reise, die er schon einmal unternommen hatte, nach Markgröningen, zur Tante Volmar. Auch die Reisebegleitung ist unverändert, Heinrike und die Mutter. Der Stiefbruder ist wieder nicht dabei. Karl, der jetzt Zwölfjährige, wird, nachdem Johanna die finanzielle Situation erwogen hatte, nicht studieren, sondern Schreiber werden, sich allerdings hochdienen, und Hölderlin wird sich immer verpflichtet fühlen, den Jüngeren zu »erziehen«. Die Spiele, an die Rike ihn erinnert, gibt es nicht mehr. Kein Versteck mehr im Garten, kein gemeinsames Getümmel mehr in der Schlafkammer. Frau Volmar ist todkrank. Sie werden empfangen von dem unvermeidlichen Blum, der vor allem darüber bekümmert ist, daß er seiner Dienstherrin nun erst recht nicht, da die Nürtinger Verwandten »beständig um sie herum« sind, seine Verlobung mit der Tochter Friederike mitteilen kann. Ein zukünftigerSchwiegersohn ohne Segen. Jedoch sieht der Stumpfsinnige, daß Johanna Hölderlin, die auf einen unterhaltsamen Besuch kommen wollte, sich nun auf ihre eigene Weise aufopfert, »die gute Frau dauert mich – daß sie hier Krankenwärterin werden muste«, aber wahrscheinlich wird er sich, eine Zukunft ohne Risiko planend, seinen Angelegenheiten gewidmet haben. Mit dem »jungen Hölderlin« machte er einen Spaziergang. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Schwätzer Hölderlin behagt hat, allerdings war er noch im selben Jahr mit ihm und dessen Braut auf einer Reise, die ihn bis in die Pfalz führte, auf seinem bis dahin weitesten Ausflug. Es war ein dauerndes Hin und Her zwischen dem Pfarrhaus in Löchgau und dem Volmarschen Haus in Markgröningen. Johanna war gewiß angespannt und die beiden Jüngeren ohne Aufsicht.
Ich muß, einfach um sie zu sehen, ihr Alter rekapitulieren: Johanna ist vierzig; Heinrike sechzehn (ein Schattenriß aus jenen Jahren zeigt sie als Dame, mit einem liebenswerten Pausbackenprofil, hochgeschnürtem Busen, elegantem Cul-de-Paris-Kleid; sie heiratet ein paar Jahre später den Maulbronner Professor Breunlin, womit sich wieder
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