Härtling, Peter
ihn neu, daß die Fremde, von der er gehört hatte, sichtbar wurde, alles, was seine Phantasie schon früher angeregt hatte, der Rhein, der Dom von Speyer, der Neckar bei Heidelberg. Da werden Themen angeschlagen, die ein ganzes Leben bleiben.
Blum trifft nicht zur verabredeten Zeit in Bruchsal ein. Hölderlin wartet, wartet, und die Ungeduld des frischen Reisenden treibt ihn fort. Er reitet allein nach Speyer: »Von Bruchsal aus hatte ich zwar keine Chaussee mehr, aber doch breiten, guten Sandweg. Ich passierte meist dicke, schauerliche Waldungen, so daß ich außer meinen Weg kaum drei Schritte weit um mich sehen konnte. So dick habe ich in Wirtemberg noch keine Wälder gesehn. Kein Sonnenstrahl drang durch. Endlich kam ich wieder ins Freie, nachdem ich Forst, Hambrücken und Wiesenthal passiert hatte. Eine unabsehbare Ebene lag vor meinen Augen. Zur Rechten hatte ich die Heidelberger, zur Linken die französischen Grenzgebirge – Ich hielt lange still.« Ein solches Bild macht man sich eigentlich nicht von ihm: Ein junger Mann, der auf einem Leihpferd durch die Gegend reitet, mit wenig Gepäck, von den Gastwirten, Bauern und Rheinfischern, mit denen er spricht, als Herr betrachtet. Nicht der Hölderlin in der Stube, schreibend oder im Kreis von Freunden – das sind dievertrauteren Szenen. So denkt man sich ihn. Daß er aber bald ein geübter Reisender war, versiert in diesen Geschäften, sich Pferde zu leihen, in einem Zimmer zu logieren, um den Wagenpreis zu handeln, heimlich die Barschaft zu berechnen, das will mit dem konventionellen Poetenbild nicht übereinstimmen.
Lange hielt er still. Er hatte die Rheinebene vor sich. »Wo aber ist einer, / Um frei zu bleiben / Sein Leben lang, und des Herzens Wunsch / Allein zu erfüllen, so / Aus günstigen Höhn, wie der Rhein, / Und so aus heiligem Schoße / glücklich geboren, wie jener?« Viel später schrieb er die Hymne auf den Rhein und widmete sie dem besten aller Freunde, Sinclair. Doch ist es nicht denkbar, daß er beim »unerwarteten Anblick« dieser »ungeheuren Ebene«, ohnedies die befristete Freiheit vom Kloster genießend, in einem schwärmerischen Zustand Freiheit zu ermessen begann? Und daß das weitertönt, zu einem rätselhaften, sich wiederholenden Echo wurde? Er sieht, von Ferne, den Speyrer Dom, läßt sich mit der Fähre über den Rhein setzen, muß auch da wieder warten, was er in dem Brief an Johanna ausdrücklich vermerkt, »aber, so gerne habe ich noch nie gewartet wie damals«: die Ungeduld vergeht vor solchen Bildern.
Er übernachtet bei Blums Schwager, dem Pfarrer Meyer; wieder ist es ein Pfarrhaus, in dem er Gast ist. Den nächsten Tag mußte er schon vier Uhr morgens aufstehen, sie besuchten nun zu dritt und bequemer im Wagen Schwetzingen und seine »Lustgärten«. Dann Heidelberg, wo wiederum spätere Zeilen wohl ihren Anfang gehabt haben, »die Stadt gefiel mir außerordentlich wohl«. Am Nachmittag erreichten sie Mannheim, besuchten im Nationaltheater eine Aufführung von F. L. Schröders Schauspiel »DerFähndrich« – in jenem Theater, in dem »Die Räuber« Premiere hatten. Ich schreibe den Titel des Stücks, ohne daß ich auch nur ahne, worum es sich handelte. Soll ich den Schmarren seinetwegen nachlesen? Er schrieb nichts darüber, als daß man sich Theater nicht »schöner, gebildeter, vollkommener« denken kann. Das Stück? Das Publikum? Die Schauspieler? Das Theater selbst? Es ist sein erstes Theatererlebnis gewesen und es hat ihn nicht gereizt, ein eifriger Theatergänger zu werden. Am 4. Juni sahen sie sich die Stadt an und fuhren über die Rheinbrücke, die mit Maschinen »an verschiedenen Orten« für Schiffe geöffnet werden konnte, nach Oggersheim: »Ich kam hier in das nämliche Wirtshaus« – das Wirtshaus Zum Viehhof – »in welchem sich der große Schiller lange aufhielt, nachdem er sich aus Stuttgart geflüchtet hatte. Der Ort wurde mir so heilig – und ich hatte genug zu tun, eine Träne im Auge zu verbergen, die mir über die Bewunderung des großen genialischen Dichters ins Auge stieg.« Er redet von Schiller, dem Neununddreißigjährigen, wie von einem, der schon Geschichte ist – diese Geschichte deutet er freilich nur an. Derselbe Herzog, dem er unlängst noch zum sechzigsten Geburtstag ein Gedicht widmete, vor dem er seinen Bückling machte, hatte Schiller vertrieben. Wie in allen seinen Jugendbriefen bleibt Gegenwart im Grunde ausgeschlossen. Magenaus Bitternis über die Bestechlichkeit und
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