Härtling, Peter
und je – doch seine Handlungen werden deutlich und bewußt. Man kann sich ein Bild von ihm machen. Auch weil er seine Sprache gefunden hat. Ich wollte, ich könnte diese zwei Jahre in einem langen Satz schildern, atemlos und anschaulich, nur mit den Stimmen von ihm, Immanuel, Louise und der entfernten Mutter – aber ich verlange zuviel von mir, auch wenn ich mit ihm beginnen kann, mit dem ersten Brief an Nast, gleich so, daß er, seine Leiden virtuos präsentierend, selbstbewußt auftritt: »… Ich will Dir sagen, ich habe einen Ansatz von meinen Knabenjahren – von meinem damaligen Herzen – und der ist mir noch der liebste – das war so eine wächserne Weichheit, und darin ist der Grund, daß ich in gewissen Launen ob allem weinen kann – aber eben dieser Teil meines Herzens wurde am ärgsten mißhandelt, solang ich im Kloster bin – selbst der gute lustige Bilfinger kann mich ob einer ein wenig schwärmerischen Rede geradehin einen Narren schelten – und daher hab ich nebenher einen traurigen Ansatz von Roheit – daß ich oft in Wut gerate – ohne zu wissen, warum, und gegen meinen Bruder auffahre – wann kaum ein Schein von Beleidigung da ist. O es schlägt nicht dem Deinen gleich – mein Herz – es ist so bös – ich habe ehmalen ein besseres gehabt – aber das haben sie mir genommen – und ich muß mich oft wundern, wie Du drauf kamst – mich Deinen Freund zu heißen. Hier mag mich keine Seele – itzt fang ich an, bei den Kindern Freundschaft zu suchen – aber die ist freilich auch sehr unbefriedigend.« Der Siebzehnjährige weiß genau, was ihm genommen, was an ihm verdorben worden ist. So, wie er sich beschreibt, könnte man ein Krankenblatt beginnen, nur wäre es falsch, ihn von nun an als Kranken durch diese Geschichte zu schleppen – er ist empfindlicher als andere, vielleicht auch wacher, auf jeden Fall verletzter und verletzbarer.
Komm, Fritz, sagt Louise zu ihm, was regsch di immer so auf, sei still, du hasch ja mi.
Aber da sind diese zwei Jahre in Maulbronn, die wirr und vielfältig in sein Gedächtnis eingehen, die er, kaum in Tübingen, zu löschen versucht, alles will er vergessen haben, Immanuel und Louise, selbst die Freunde, die wie Bilfinger mit ihm ziehen, die er mit einem Male nicht mehr in seinen Kreis nimmt, andere bevorzugt, neue, die ihn nicht an Maulbronn erinnern. Es ist nicht nur sein Genius, der sein Gesicht klarer, reifer erscheinen läßt als das der andern Buben, daß er den Lehrern mitunter eigentümlich erwachsen vorkommt, daß er wunderbar heiter und still sein kann, daß er sich fügt und seine Fügsamkeit nicht liebedienerisch wirkt, daß er ein Dichter sein will; es ist auch die Wirklichkeit, die er um sich schafft und die ihn unterscheidet.
»Sie haben mein ganzes Herz.«
Ich will ihn nicht als Helden, und dennoch ist er eine Ausnahme. Deshalb kümmere ich mich so nachdrücklich um seinen Alltag.
Jetzt, wenn er mit Louise spricht, das erste Mal, und sie fast einen Monat nicht sehen wird, darunter leidet, ist er schon abgelenkt. Denn das herzogliche Paar wollte das Seminar besichtigen. Weinland hatte ihn zu sich rufen lassen, aufgeregt, »diese Ehre!, diese Ehre!«, das Hohe Paar, noch zu Besuch in Heidelberg, habe sich angesagt und beabsichtige, den Unterricht zu besuchen, alles zu prüfen, darum sei noch viel zu tun und er, der Poet, sei dazu ausersehen, ein Gedicht auf die Hohe Frau zu schreiben und es ihr, in angemessener Form, zu überreichen, eine Ehre, Hölderlin, eine Ehre, und es ist auf den 8. November nur mehr wenig Zeit, also streng Er sich an, nicht wahr, Er wird den Ruhm der Schule mehren helfen, wo es doch in letzter Zeitmanche Anstände und Mahnungen gegeben habe, wegen der lockeren Disziplin und des Komödienspiels, welches nun untersagt worden sei, da müsse man manches aufputzen, hasch verstande?, aber der Junge hört schon gar nicht mehr hin, er denkt sich schon Zeilen aus, huldigende Sätze für das Gedicht, »womit bei der höchstbeglückten Ankunft / Ihro Herzoglichen Durchlaucht / der Frau Herzogin von Württemberg / Franziska / in dem Kloster Maulbronn / seine untertänigste und tiefste Devotion / bezeugen / und sich Höchstdero Durchlaucht zu höchster / Huld und Gnade untertänigst empfehlen wollte / Joh. Christian Friedrich Hölderlin«, und spielt den wohlgeratenen Alumnen, reiht sich unter die Katzbuckler, überreicht der Dame sein Gedicht in einem Umschlag aus Goldpapier: »Lang wars der heiße inniggefühlte Wunsch /
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