Härtling, Peter
meinem Geschmack, doch Kraft steckt dahinter.
Die »Neue Vaterländische Chronik« hat er gewiß gelesen, auch Schubarts Strophen »Auf eine Bastillentrümmer von der Kerkerthüre Voltaires (die dem Verfasser von Paris geschickt wurde)«. Es entzückte ihn, wie der auf den Tod kranke Poet seine brüderliche Erinnerung an den Aufklärer mit der Zustimmung zu dem lang erhofften Aufruhr verbindet: »Dank Dir, o Freund, aus voller Herzensfülle / Für die Reliquie der greulichen Bastille, / Die freier Bürger starke Hand / Zermalmend warf in Schutt und Sand. // Zertrümmert ist die Schauerklause, / Die einst, o Voltaire , dich in dumpfe Nacht verschloß. / Kein Holz, kein Stein, kein Nagel bleibe von dem Hause, / Wo oft der Unschuld Zähre sich ergoß! – // Drum, Biedermann, empfange meinen Segen / Für diese Trümmer, die dumir geschickt; / Sie ist mir theurer als ein goldner Degen, / Womit einst ein Tyrann die Freien unterdrückt.«
Ich lasse Hölderlin denken, was ich denke: daß Schubart sich sehnlichst wünschte, es ergehe dem Asperg, seinem Kerker, so wie der Bastille, kein Stein solle auf dem anderen bleiben, und Hölderlin bewunderte den sich wieder erhitzenden Mut des alten Mannes, der die Großzügigkeit des Landesherrn genoß, sich aber die Wahrheit nicht aus dem Kopf zahlen ließ.
Der Alltag sieht anders aus. Im Stift wagen sie es noch nicht, offen zu reden. Man lernt, man schweigt. Die Professoren übergehen, was geschieht. Es hat alles so zu bleiben, wie es ist. Und er, er flieht. Dulon, ein berühmter Flötenvirtuose, hält sich in Tübingen auf. Bei ihm nimmt er Unterricht, gemeinsam mit ihm musiziert er. Es fällt ihm leicht, sich in die Phantasie zurückzuziehen, seine Gedanken zu beleben mit Gestalten, die man lieben und anbeten kann. Wie zum Beispiel Thill.
Thill war zur Anbetungsfigur, zum guten poetischen Geist des Freundesbundes geworden. Neuffer hatte die Gedichte Thills vorgelesen. Wieder ist Stäudlin in die Geschichte verquickt: er hatte in seinen ersten Musenalmanachen – über die Schiller sich zutiefst ärgerte, weil sie mit seinen Almanachen konkurrierten, und die er wütend provinziell schalt – Gedichte Johann Jakob Thills gedruckt und mit Verve auf den Begabten hingewiesen. Thill, Magister an der Tübinger Universität, war mit fünfundzwanzig Jahren, 1772, im selben Jahr wie Hölderlins »erster Vater«, gestorben. Der frühe Tod verlieh dem Werk eine Aureole. Thill hatte, wie Neuffer und Hölderlin, patriotische Gesänge geschrieben, die große, ritterliche Vergangenheit gerühmt: »Noch werdich weinend deinen Unfall sehen, / Noch wird ein Sturm dein Haupt umziehn, / Germania! Und von den stolzen sichren Höhn / Der edle Frieden fliehn.« Diesen Geist konnten sie schwärmerisch in ihre Mitte nehmen. Mit Neuffer wanderte Hölderlin ins Remstal, nach Großheppach, zum Grab des Idols. Weinberge säumten ihren Weg, dörfliche Idyllen. Solche Bilder schätzten sie, in sie ließ sich fliehen, mit ihnen ließ sich’s träumen. Bald war das Andenken an den früh Gestorbenen kaum mehr als ein Vorwand für exaltierte Fluchten aus dem Stift, für die Beschwörung der Dreierfreundschaft, des Aldermannbundes. Diese Zwanzigjährigen waren Schwärmer, sie lebten ihre Gefühle, das Glück einer beständig scheinenden Gemeinschaft ohne Hemmungen aus, genossen das gegenseitige Verständnis. Alle Wege, die Thill rings um Tübingen gewandert war, alle Orte, an denen er geschrieben hatte, wurden zu Wallfahrtszielen, das Wankheimer Tälchen, »rings umtanzt von dem liederreichen Volke des Wäldchens«, wie Magenau noch aus der Erinnerung euphorisch schreibt, oder der Spitzberg zwischen Tübinger Schloß und Wurmlinger Kapelle.
Diesen Weg bin ich vor mehr als zwanzig Jahren auch oft gegangen, von Thill und den Aldermännern nichts ahnend, doch angeregt von einer Landschaft, die Geschichte selbstverständlich aufnimmt. Da haben sie gelagert, unter einem gewaltigen Baum oder auf einer Wiese am Waldrand, haben debattiert, sich vorgelesen, über Bücher geredet, übers Stift, die anderen Studenten.
Woisch, d’r Dichter muß elles wage, sei Bahn gleicht der eines G’stirns.
Des isch e gueter Vergleich.
Er darf sich nicht aufhalten lassen durchs Tägliche.
Wenn ich an Renz denke, der für seine Kleinmütigkeit ein gutes Zeugnis nach dem andern kriegt.
Das ist falsch. Der ist nicht kleinmütig. Der hat bloß keinen Stern.
Neuffer sagt: Wisst ihr was, jetzt rennen wir runter an die Neckarwiesen und
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