Härtling, Peter
baden.
Sie laufen nebeneinander den Hügelweg hinunter, aufs Tal blickend, in dem der Mäander des Flusses glänzt. Sie baden oft nachts, nackt, gegen den Strom schwimmend, und dann halbnaß in die Kleider schlüpfend.
Da dampft m’r wie a Gaul.
Läßt es sich so außerhalb der Zeit leben? Kann man seine Freundschaft vor der unaufhörlichen Wandlung abschirmen? Die Gegenwart wird sie bald fassen. Dazu braucht es nur den quälenden Alltag im Stift, den sich in den Vorlesungen wiederholenden Stumpfsinn der Lehrer, deren Unmenschlichkeit.
Und seine Anfälligkeit, die jähen Zornesausbrüche, daß er sich unvermittelt gegen Kerkerwände stemmt. Aus solch einem Aufbegehren schreibt er das schönste, ehrlichste Gedicht dieser Jahre. Endlich redet er nicht nach Muster, verschwindet seine Eigenheit nicht im allzu groß gedachten Entwurf. Seine Bitterkeit findet genaue Wörter. Er wehrt sich mit seiner Sprache: »Ich duld es nimmer! ewig und ewig so / Die Knabenschritte, wie ein Gekerkerter / Die kurzen, vorgemeßnen Schritte / Täglich zu wandeln, ich duld es nimmer! // Ists Menschenlos – ists meines? ich trag es nicht, / Mich reizt der Lorbeer, – Ruhe beglückt mich nicht, / Gefahren zeugen Männerkräfte, / Leiden erheben die Brust des Jünglings. // Was bin ich dir, was bin ich, mein Vaterland? / Ein siecherSäugling, welchen mit tränendem, / Mit hoffnungslosem Blick die Mutter / In den gedultigen Armen schaukelt.«
Drei seiner Themen schlägt er in diesen Strophen krass an: Die seelische Verkrüppelung des Kindes, das in den Schulen nach Vorschrift leben muß; die Sehnsucht nach dem gefährlichen Ruhm, den nur der Mann, nicht der Knabe (und sei es auch der, der im Gedächtnis noch immer so bedrängend nah ist) gewinnen kann; die Beziehung zur Mutter, die ihn für sich kleinzuhalten versucht – ein Wechsel aus tiefer Liebe und furchtsamer Entfernung; er wird sie brauchen, wird zu ihr zurückkehren, denn sie hat ihn allzu lange in den »gedultigen Armen« geschaukelt.
In den Herbstferien von 1789 versucht er erneut, wenngleich gedämpft, der Mutter seinen Zwiespalt zu erklären. Das »erschütterte gepreßte Herz« macht ihm zu schaffen. Tagelang wandert er allein in der Umgebung. Die Freundschaft mit Bilfinger ist, nicht ohne Schuld der Aldermänner, zu denen Bilfinger nicht gehört, abgekühlt. Er besucht ihn nur mehr selten.
Der Grasgarten gehört noch der Familie. Dorthin nimmt er manchmal Karl und Rike mit, denkt an früher.
Karl ist dreizehn, verständig, bisweilen überraschend schlagfertig, noch an der Lateinschule, aber die Mutter hat beschlossen, ihn nicht auf die Universität gehen zu lassen, es würde einfach zu viel Kosten machen, und ihr genügten die Erfahrungen mit dem Fritz; er solle Schreiber werden, da habe er auch seine Reputation, und beim Nürtinger Schultheiß werde sie ihm eine Stelle verschaffen. Schließlich sei er der Sohn vom Gok.
Die Rike hingegen ist eine junge Dame, siebzehn Jahre alt, sie putzt sich aufwendig, was Johanna mißfällt, sie solle ein bißchen demütig sein.
Die Geschwister kennen seine Nöte.
Heinrike hatte ihm geraten, sich mit der Mutter auszusprechen, ihr die Zustände am Stift ohne Beschönigung zu schildern.
Das habe wenig Wert, meint er. Außerdem verstimme er sie, wenn er zusätzlich um Geld bitten müsse, das Leben in Tübingen sei teurer, sie werde der Meinung sein, auf dem Stift komme er in jeder Hinsicht aus.
Rike fragt ihn nach Louise.
I han nix mehr von ihr g’hört.
Des find i net schö, Fritz.
Ich kann net bloß Sache mache, die du schö findesch, Rike.
Sei net immer glei so beleidigt.
Karl verfolgt, ohne sich einzumischen, angespannt die Unterhaltung zwischen den älteren Geschwistern.
Auf dem Heimweg, sie bleiben eine Zeit auf der Neckarbrücke stehen, und er erzählt, wie schnell er als Bub über den Neckar geschwommen sei, kaum mehr als fünf Minuten habe er gebraucht, auf dem Heimweg fragt ihn Heinrike, ob sie in Tübingen über die »Sach« in Paris sprächen und fährt, unsicher, fort: Ist es richtig, einfach so einen Aufstand ohne den König zu machen? Er lacht, nimmt sie bei der Hand: Oh Mädle, wenn auch sonst nichts richtig ist, das war es, das kannst du mir glauben, Kerker aufzubrechen, so etwas kann auch das ganze Volk befreien. Und wenn Frankreich ein Freistaat wird, eine Republik, dann breitet sich die Lust nach Freiheit wie ein Feuer aus.
I hab Angst davor.
Vor der Freiheit kann man auch Angst haben.
Kraz, der im
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