Härtling, Peter
vorlauten, übereifrigen Apotheker, der älter war als alle anderen und sich durch sein künstliches Feuer verdächtig machte.
Nur die Jungen dürften so übertreiben, bei den Älteren sei es entweder dumm oder falsch.
Er war ein Verräter, ein Spitzel. Es stellte sich später heraus, als Wetzel, von wem auch immer gewarnt, überstürzt das Stift verließ; nach ihm gefahndet wurde, er jedoch heil Straßburg erreichte.
Tübingen ist klein, eng: Es lauscht auf alles, was seiner Ruhe gefährlich werden könnte. Die in der Stadt die Macht haben, hüten den Frieden. Sie haben mit der Republik nichts im Sinn. Demokratie, Gleichheit, Brüderlichkeit sind für sie Erfindungen des Teufels. Also lassen sie – nicht mehr ganz sicher, denn die französischen Zustände könnten in der Tat um sich greifen – die Aufrührer beobachten. Gut, es sind Kinder, ganz selten Beamte. Und die kann man, wie auch die Repetenten, unter Druck setzen. Schwieriger ist es schon mit den Advokaten, den Schreibern. Doch Mittel, sie zur Räson zu bringen, finden sich genug. Wenn sie »übertreiben«, werden sie eingekerkert oder des Landes verwiesen.
Leute wie Seckendorf treiben es in ihrer Leidenschaft oft weit, liieren sich mit unsicheren Kantonisten, reden unvorsichtig in den Gastwirtschaften, schneiden auf, doch ihr Engagement, ihre Kenntnisse sind ernsthaft.
Die Mömpelgarder sind am besten über Neuigkeiten unterrichtet, sie bringen französische Flugblätter und Zeitungen mit, lesen pathetisch daraus vor, und, wenn er Lust dazu hat, kommentiert Hegel. Was auf sie einstürzt, übersteigt ihr Verständnis. Vieles bleibt unvorstellbar. Essind große und blutig gemalte Gemälde einer Zukunft, die sie sich heller, menschlicher, freundlicher erhoffen. Manchmal überschreien sie das eigene Erschrecken.
Aber als Preußen und Österreich sich gegen die Revolution verbündeten, als Brissot zum Krieg gegen diese Koalition trieb, als ihnen Fallot weinend die Proklamation »Das Vaterland ist in Gefahr« vorlas, als die Tuilerien gestürmt und der König gefangengenommen wurde, als Lafayette schändlicherweise zu den Österreichern überlief, als die Revolutionsarmee bei Valmy der preußischen Kanonade standhielt, waren sie sich einig in Empörung und Zustimmung. Das alles kam näher und ging sie unmittelbar an. Selbst als im September 1792 tausend »Verdächtige« im Namen der »Einen und unteilbaren Republik« umgebracht wurden, verstanden sie sich gegenseitig zu beschwichtigen: es seien Feinde gewesen, Schädlinge, sie hätten die junge Republik ruinieren können.
Komm, guck, was d’r Cotta schreibt, lies den Reinhard! Das waren zwei, denen sie trauten. Sie hatten mit Tübingen zu tun gehabt, Reinhard war sogar Stiftler gewesen, und beide waren, unglücklich und unfrei im eigenen Land, aufgebrochen in die Revolution, nahmen teil. Christoph Friedrich Cotta war der jüngere Bruder des Tübinger Buchhändlers und Verlegers. Einige von ihnen, vor allem die älteren Repetenten, hatten Umgang mit ihm, ehe er nach Straßburg ging, dort das »Politische Journal« herausgab – sie schwiegen sich aber lieber aus, da die Bekanntschaft mit Republikanern ihrem Ansehen hätte schaden können. Cotta verpflichtete sich ganz und gar der republikanischen Sache. Später diente er als Kanzlist dem General Custine in Mainz, schrieb Aufklärungsbroschüren, die in ungeheuren Mengen unters Volk verteiltwurden, sorgte für das Postwesen in den besetzten Rheingebieten und verschwand, als Napoleon die Herrschaft antrat, ohne weitere Spuren zu hinterlassen. Vielleicht hielt ihn sein inzwischen berühmter Bruder verborgen – einen frühgealterten Namenlosen, der sich ein wenig um die Buchhaltung des florierenden Verlags kümmerte, den keiner zu fragen wagte, wer er sei, woran er so schrecklich leide.
Reinhard hatte es leichter. Er war neun Jahre älter als Hölderlin. Am Stift hatte er sich ausgezeichnet. Noch jetzt wurden seine Gaben, seine geistige Beweglichkeit gerühmt. Professoren wie Bök, Schnurrer, Lebret konnten es nicht verstehen, daß er sich auf eine solch windige Karriere eingelassen hatte. Der könnte, hätte er es wollen, schon einer der wichtigsten Berater des Herzogs sein.
Da gibt es eine unerhebliche Station in Reinhards Lebenslauf, die zu erwähnen sich nicht lohnt, mich aber sentimental werden läßt: Reinhard diente, wie Hölderlin, für kurze Zeit als Hauslehrer in Bordeaux. Ob Hölderlin in den wenigen Monaten seines Aufenthalts von seinem Wirken
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