Härtling, Peter
begehrt.
Jemand, der ihnen fremd war und eine Weile bei ihnen gestanden hatte, flüsterte ihnen zu, in Hirschau und in Rottenburg hielten die Franzosen auch einige Republikaner gefangen. Sie hätten sie aus Frankreich mitgeschleppt. Der Mann verschwand, ehe sie ihn weiter fragen konnten.
Des isch G’schwätz, des kann net sei, sagte Hölderlin. Er möchte gehen.
Vor dem Abendhimmel vergrößerte sich die Silhouette des Schlosses unwirklich, die Stadt schien aus der Verankerung gerissen, schwebend. Das stumpfe, algengrüne Wasser des Neckars begann unter dem brechenden Licht zu glänzen. Schelling und Hölderlin gingen langsamer, blickten auf die sich ständig wandelnde Kulisse. Der Lärm war mittlerweile hinter ihnen geblieben, nun hörten sie nur noch ab und zu Stimmen, eigentümliche, sich selbst geltende Rufe, Vogelschreie. Er sagte, wie nebenher, zu Schelling: In solchen Augenblicken weiß die Natur, daß sie endet.
Die nächsten Tage wich er den Mömpelgardern aus, ließ sich im Klub nicht sehen, bis Hegel ihn dringlich einlud, doch wieder an den Treffen teilzunehmen. Er könne sich zurückhalten, müsse sich ja nicht einmischen. Hitzköpfe gebe es genug. Du fehlst uns einfach, Fritz.
Was in diesem und dem nächsten Jahr sich ereignete, dieBesetzung von Mainz durch die republikanischen Truppen; das Dekret des Konvents, allen Völkern, die frei sein wollten, Brüderschaft und Hilfe zu gewähren; die Hinrichtung des Königs, die Ermordung Marats durch Charlotte Corday; die Girondistenverfolgung, die Verhaftung und Hinrichtung Dantons und endlich die Hinrichtung Robespierres – alle diese Ereignisse waren ihm so nah, so unmittelbar, als spielten sie sich in seinem Kopf ab. Als erfände er den großen Anfang einer Geschichte, die an seiner zeitweiligen Mutlosigkeit scheiterte.
Er liest den Don Carlos. Schillers Ton packt ihn. Sein ganzes Wesen hallt davon wider. Oft, wenn sie zum Österberg gehen oder auch nur, um den Modergeruch des Stifts hinter sich zu lassen, für eine halbe Stunde am Neckar spazieren, spricht er auswendig, was ihm verwandt ist: »Der Freundschaft arme Flamme füllt eines Posa Herz nicht aus. Das schlug der ganzen Menschheit. Seine Neigung war die Welt mit allen kommenden Geschlechtern.«
An Karl, der von alledem wenig ahnt, nur das Wissen und die Vorausschau des älteren Bruders bewundert, schreibt er, Schillers Gedankenflug fortsetzend: »Meine Liebe ist das Menschengeschlecht … Das Geschlecht der kommenden Jahrhunderte … Die Freiheit muß einmal kommen, und die Tugend wird besser gedeihen in der Freiheit heiligem erwärmenden Lichte als unter der eiskalten Zone des Despotismus …«
Philipp Lerouge wurde, wenn auch nur für einige Tage, zum Geschöpf seiner Zukunft. Von ihm hörte der Klub – allerdings längst nicht alle, die sich ihm zurechneten, da die Mömpelgarder darauf achteten, daß nur die Zuverlässigen, die gut Bekannten eingeweiht waren – zum erstenMal durch den Musiker Eduard Greiner. Auch Greiner hatte man eine Zeitlang mißtraut. Er redete wenig über sich selbst, seine Herkunft blieb undurchschaubar, sein übertriebener republikanischer Eifer erschien ihnen eher verräterisch. Seine Existenz bestritt er mit Hausstunden. Greiner hatte die besten Verbindungen zu Österreichern in Rottenburg.
Hölderlin mochte ihn nicht. Er warnte Hegel, der Greiner zu einem seiner Vertrauten machte, vor ihm. Alles an dem Kerl sei undeutlich, das müsse doch Gründe haben. Hegel hielt diese Vorsicht für übertrieben. Du denkst über Menschen oft engherzig, Fritz.
In Greiners Wohnung trafen sie sich meistens. Sie war geräumig, und da sie mitunter auch musizierten, blieben ihre Gesellschaften für Nachbarn unverdächtig.
Greiner war der Drahtzieher bei der Befreiung des jungen Republikaners Lerouge. Er hatte erfahren, daß Lerouge in Hirschau gefangengehalten werde. Lerouge habe sich im Auftrag des Mainzer Armeestabs ins Österreichische geschmuggelt, um die Stimmung unter den Emigranten zu erkunden. Dabei sei er entdeckt und gefaßt worden. Greiner plante, ihn mit Hilfe einiger Vertrauensleute zu befreien. Gelänge dies, werde man ihn eine Weile in Tübingen versteckt halten müssen.
Es gelang tatsächlich. Die Verwirrung war groß, obwohl der Klub damit gerechnet hatte. Wo sollte man Lerouge vor dem Zugriff der Beamten verbergen?
Es war nicht schwierig, Lerouge ins Stift zu bringen. Die Bauarbeiten, die auch den Trakt am Portal in Mitleidenschaft gezogen hatten, und die
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