Härtling, Peter
verprügelt.
Wir wollen alles in Ruhe besprechen, sagte der Major. Diese Ruhe können Sie von mir nicht erwarten, antwortete Herr Münch. Das ist verständlich, doch unnütz, sagte der Major und war sichtlich froh, nicht weiter reden zu müssen, denn das Zimmer betrat nun eine junge Frau und ein Bub, der kein anderer sein konnte, als der von zwei Erziehern unfreiwillig umkämpfte Fritz von Kalb.
Dies ist, sagte der Major, ohne sich aus dem Fauteuil zu erheben, der neue Hofmeister, Herr Doktor Hölderlin aus Tübingen, und dies die Gesellschafterin meiner Frau, Madame Kirms.
Madame Kirms ließ den Jungen von der Hand und sah Hölderlin abwartend an.
Mönch hatte sich inzwischen gesetzt.
Der Bub lief auf Hölderlin zu, stellte sich neben ihn und sagte, durchaus aufsässig: Das ist mein neuer Lehrer. Er ist lieb.
Wenn du es meinst, sagte der Major. Frau Kirms begann zu lachen.
Was gibt es da zu lachen? fragte Herr Münch.
Sollte ich es nicht? Nun setzte sich auch Madame Kirms, die mit ihrer Ruhe, ihrer ganzen Erscheinung Eindruck auf Hölderlin gemacht hatte.
Ich werde Frau von Kalb schreiben. Der Major sagte es so, als sei dies der alles lösende Einfall.
Niemand wußte etwas dazu zu bemerken.
Der Bub fragte: Wann kommt die Mama?
Worauf er von seinem Vater keine Antwort bekam, jedoch von Madame Kirms, die »bald« sagte und hinzufügte: In welches Zimmer soll, solange Herr Münch sich noch im Hause aufhält, Herr Hölderlin einziehen?
Ich weiß es nicht, sagte der Major.
Dann kümmere ich mich darum, sagte Madame Kirms.
Herr Münch wird uns in den nächsten Tagen ohnedies verlassen, stellte der Major mehr für sich fest. Es hörte sich endgültig an, und von einer Abfindung war nicht mehr die Rede.
Fein, sagte der Junge, und Herr Münch fuhr zusammen.
Sie werden müde sein, sagte Madame Kirms, ich werde den Diener rufen, daß er Sie aufs Zimmer führt. Lisette wird Ihnen dann noch einen Imbiß bringen.
Sie verließ das Zimmer, wenig später erschien der Diener, der Major wünschte Hölderlin eine gute Nacht, auch Herrn Münch, der damit aufgefordert ist, den Salon zu verlassen.
Fritz nahm Hölderlins Hand, fragte, ob er ihn auf die Stube begleiten dürfe.
Ja, sagte er, verbeugte sich vor dem Major, ging mit Fritz dem Diener nach, der ihn die Treppe hinauf, ins zweite Stockwerk führte.
Fritz blieb noch eine Weile bei ihm. Es klopfte. Frau Kirms holte Fritz, sagte: Ich hätte Ihnen ein weniger aufregendes Entree gewünscht. Der Junge streichelte ihm die Hand, was ihn rührte, obwohl ihn das gedunsene, stumpfe Gesicht des Kindes erschreckt hatte.
Angekleidet legte er sich aufs Bett. Immerhin war er solchem Wirrwarr gewachsen!
Drei Tage danach verließ Herr Münch das Schloß. Ob mit oder ohne Abfindung, erfuhr sein Nachfolger nicht.
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II
Ein Anfang
Es ist seine erste Anstellung, zum ersten Mal hat er nicht Freunde um sich, muß er sich nicht in den Schul- oder Studienbetrieb schicken, sondern sich und seinem Zögling selbst den Tagesablauf bestimmen. Alles, was er erfährt, ist ihm neu. Er lernt seine Unabhängigkeit – und eine andere Abhängigkeit. Aus den Briefen, die er in der ersten Hälfte des Jahres der Mutter, dem Bruder und Neuffer (der ihm aus der Entfernung wieder zum besten aller Freunde wird) schreibt, lese ich einen Überschwang, dem es gelingt, alles zu harmonisieren. Auch Fritz von Kalb wird in dieses Wohlempfinden einbezogen, und es wird heilsam auf das störrische Kind gewirkt haben. Hölderlin weiß noch nicht, daß die Bereitwilligkeit und Freundlichkeit des Buben nicht von Dauer sein, daß Krankheit und Renitenz bald wieder durchbrechen und ihm zu schaffen machen werden. Sicher, das Leben im Schloß ist »ziemlich einsam«, doch »günstig für die Bildung des Geistes und Herzens«. Er will alles ausgeglichen betrachten. Nie mehr wird er danach so unangefochten sein, die Tage so leicht, so seiner selbst sicher verbringen. Ich versuche ihn mit den Augen derer zu sehen, die um ihn sind: Wilhelmine Marianne Kirms, der Major, Fritz, die Dienerschaft, der Pfarrer Nenninger und, später, dasie erst Mitte März nach Hause zurückkehren wird, Charlotte von Kalb. Lisette, die Bedienerin, nennt ihn einen Engel, und Wilhelmine Kirms erinnert er, wie schon seine Tübinger Freunde, an Apoll.
Du mußt ihn liebhaben, sagt Wilhelmine zu dem Buben. Sie sagt es beschwörend, als wisse sie, daß das Kind allein die Macht hat, alles zu zerstören.
»Meine Zeit ist geteilt in meinen
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