Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
anfasste. Sein Kuss kam so unerwartet und plötzlich, dass es ein paar Sekunden dauerte, bis sie reagieren konnte. Seine Zunge bewegte sich mechanisch in ihrem Mund, hart und rau. Sein Gesicht war so nah, dass sie kaum atmen konnte. Sie versuchte aufzustehen, aber die Muskeln streikten. Erst als die Panik erwachte, konnte sie heftig den Kopf schütteln, und sein Gesicht verschwand.
»Hör auf, verdammt, was machst du da?«
Er lächelte, ihre Ablehnung schien ihn nicht zu stören, er richtete sich ein wenig auf.
»Du warst so verdammt süß, wie du da geschlafen hast, ich konnte nicht an mich halten.«
Sein gleichgültiges Grinsen machte sie so wütend, dass sie die Kraft fand, um aufzustehen.
»Du lässt verdammt noch mal die Finger von mir!«
Er schaute auf, sein Grinsen verschwand.
»Hör mal zu, was bekomme ich denn für die Pille? Es ist dir doch gut gegangen? Nichts ist umsonst im Leben, das solltest du wissen!«
Sie ging schnell zur Schule zurück. Am Ende des Friedhofs, wo eine schmale Straße die Grenze zwischen Schule und Friedhof bildete, kamen ihr Nora und Sussie entgegen.
»Julia! Wo warst du!«
Julia schaute sie erstaunt an, sie war so sehr in ihren eigenen Gedanken gewesen, dass sie die beiden nicht hatte kommen sehen.
»Ach, nur da drüben, ich habe Luft gebraucht und bin spazieren gegangen.«
»Prima. Hast du Dante getroffen?«
Julias Blick verriet alles. Nora schüttelte den Kopf und setzte eine weltgewandte Miene auf.
»Das ist mal wieder typisch für ihn. Er hat dich begrapscht, was? Verdammter Hurenbock! Kann nicht mal eine Minute die Hände bei sich behalten.«
Sussie legte Julia eine Hand auf die Schulter.
»Kümmer dich nicht um ihn, er meint es eigentlich gut, geht nur manchmal ein bisschen zu forsch ran. Aber du hast doch was von ihm bekommen, oder?«
Julia nickte.
»Da siehst du es. Nichts ist umsonst. Leider.«
Sie lächelte und leckte sich die Lippen, die dick mit einem nach Erdbeeren riechenden Lipgloss bestrichen waren.
Nora schaute sie vielsagend an und machte einen Schmollmund.
»Aber du hast schon recht, er schmeckt manchmal ziemlich widerlich.«
Sussie fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
»Ja, er ist nicht der Frischeste der Weltgeschichte. Aber man darf nicht wählerisch sein. Wir müssen dankbar sein, dass er uns so viel gibt. Und wenn wir die Bezahlung durch drei teilen, ist es vielleicht nicht so schlimm.«
Nora grinste und hob die Hand zu einem Gruß.
»Wir müssen gehen, sonst schaffen wir es nicht in der Pause. Wir sehen uns später.«
Julia nickte und ging aufgewühlt zur Schule zurück. Das angenehme, einlullende Gefühl, das die Pille ausgelöst hatte, verschwand schon wieder. Sie wünschte, es käme wieder zurück und würde sie wieder mit warmer Geborgenheit umschließen.
Gedanken über die Nacht trudelten abwärts, immer weiter abwärts in einer ewigen Spirale, während sie aus dem Fenster in das kompakte Dunkel starrte. Es gab eine Grenze zwischen der Wirklichkeit und etwas anderem. Es sollte sie jedenfalls geben, es gab immer eine Grenze. Man wusste nur nie so genau, wann man sie überschritt. Nachts war sie oft undeutlich, tagsüber tauchte sie ganz unerwartet auf, plötzlich merkte man, dass man auf ihr stand und balancierte, vor- und zurückwippte. Der eine Fuß noch hier, der andere drüben, auf der anderen Seite.
Da draußen gab es schneebedeckte Bäume mit scharfen Konturen. Sie wusste es ganz genau. Fasziniert betrachtete sie die schwarz-weißen Bäume, die jetzt runde, unscharfe Bälle waren. Auch die Autos auf der Straße hatten sich in runde Kugeln verwandelt, eine Perlenkette aus bunten Lichtern. Sie waren unscharf, aber rund. Die Welt hatte offenbar beschlossen, keine scharfen Kanten mehr zu haben. Nichts war mehr viereckig. Alles hatte sich in kleine Partikel aufgelöst, die in Staub und Nebel schwebten und tanzten. Genau wie ihr Gehirn, unkontrollierbar.
Sie legte sich die Hand auf die Stirn, sie war heiß und fiebrig vor Schlaflosigkeit. Die Welt wurde noch eigenartiger, wenn sie nicht schlafen konnte. Wie lange saß sie schon hier und starrte aus dem Fenster? Auch eine Wirkung der undeutlichen Grenze. Die Zeit verschwand. Ihrer gefüllten Blase nach zu urteilen saß sie schon seit Stunden am Fenster.
Der Rest des Sonnenblumenhofs schlief, sie beneidete sie. Ihr Schlaf existierte nicht mehr, nur noch die Müdigkeit. Diese schwere, deprimierende Müdigkeit, die sie schwindelig und berauscht machte. Die Lider fielen ihr
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