Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
schaute auf seine Lippen, er verzog sie zu einer genervten Grimasse.
»So so, aha.« Er runzelte die Stirn und biss sich in die Lippen. »Wirst du vielleicht krank?«
»Mhm.«
Er seufzte hörbar.
»Sollen wir so sagen, du versuchst heute, in den Unterricht zu gehen, und wenn du dich sehr schlecht fühlst, dann rufst du an, okay?«
Julia nickte.
»Okay.«
Kricke lächelte erleichtert und schloss das Auto ab.
Es dauerte eine Stunde. Eine sauerstoffarme Stunde, Julia hechelte wie ein Hund, um so viel Sauerstoff wie möglich zu bekommen, ehe er in den gierigen Lungen der anderen verschwand. Und vorne stand eine Lehrerin, die sich als Lotta vorgestellt hatte, die redete und redete und erklärte dem anderen Lehrer, Göran, den Stundenplan der kommenden Woche. Lotta klang ärgerlich, es gab ein Missverständnis.
»Ich arbeite nur fünfundsiebzig Prozent, und deswegen gehe ich donnerstags immer um zwei.«
Julia schwitzte weiter, die Haut juckte, schließlich wurde sie von Panik überschwemmt. Der Stuhl fiel um, als sie aufstand und aus dem Klassenzimmer lief. Die Kälte schlug ihr entgegen, sie bekam kaum noch Luft, dann drehte sie sich um und nahm ihre Jacke vom Haken. Lotta kam ihr aus dem Klassenzimmer nach.
»Was ist los, Julia?«
Sie schaute Lotta unschlüssig an. Das Gefühl von Unwirklichkeit machte sie ganz schwach.
»Ich habe keine Luft mehr bekommen.«
Lotta schaute sie an und lächelte.
»Das kommt vor. Mach einen kleinen Spaziergang und komm zurück, wenn es dir besser geht.«
Sie ging zum Friedhof. So mitten am Tag war hier niemand, bis auf eine Frau, die langsam zwischen den Gräbern spazieren ging. Julia ging in die entgegengesetzte Richtung. Auf dem Gras zwischen den Gräbern lag braunweißer Schneematsch, andere Stellen leuchteten grün. Das Gras schlief seinen Winterschlaf und würde erst in einigen Monaten wieder aufwachen. An einen grauen Grabstein mit der Inschrift »Hier ruht Johan Näsström. Geliebter Ehemann und Vater. 3. April 1915–21. Dezember 1983« hatte jemand einen Topf lila Heidekraut gestellt. Vielleicht war er wirklich geliebt gewesen. Oder man hatte es einfach so hingeschrieben. Eine letzte wohlwollende Geste der Versöhnung, die Sehnsucht danach, dass alles, was nicht gut war, sich in ein schönes Verzeihen verwandeln konnte.
Und wenn man sich nicht versöhnen wollte oder konnte? Was würde auf Carls Grabstein stehen?
Hier ruht Carl Malmquist (der Saukerl). Verdientermaßen von Albträumen geplagt, zum Fegefeuer verdammt.
Gab es Vorschriften, dass man so etwas nicht auf einen Grabstein schreiben durfte? Ein Gesetz, dass dem Hass der Überlebenden nicht stattgegeben werden konnte? Bestimmt waren sehr viele Verstorbene nicht geliebt, auch wenn das auf jedem zweiten Grabstein stand.
Sie ging zwischen den ordentlichen Reihen der Grabsteine hindurch und stellte erstaunt fest, dass sie hier gut atmen konnte. Die Panik war weg. Sie füllte die Lungen mit der kühlen Luft.
Hier zwischen den Toten fällt es leicht zu leben.
Vielleicht war es der einzige Ort im Universum, wo sie in Frieden existieren konnte. Hier gab es die Stille und die Einsamkeit. Hier konnte sie sich hinlegen und eins werden mit dem Schneematsch und irgendwann wieder Gras. Nur sein. Befreit von fragenden Blicken und Wohlwollen.
Als plötzlich eine dunkle Gestalt hinter einem Familiengrab hervorsprang, schrie sie laut auf. Er trug eine schwarze Kapuze und einen schwarzen Ledermantel und ähnelte der Gestalt, die sie im Mondland verfolgte.
Das Lachen aus seinem Mund war gekünstelt und freudlos.
Er lacht, weil er zeigen will, dass er ungefährlich ist, aber ich weiß jetzt, er ist lebensgefährlich. Total verrückt und grenzenlos, genau wie …
»Du hast doch wohl keine Angst bekommen? Ich bin es doch nur, Dante!«
Julia antwortete nicht, sie ließ die Arme hängen und starrte ihn an.
»Na komm schon, es hat dir doch gefallen heute Nacht?«
Als sie nicht antwortete, fuhr er mit gespielter Enttäuschung fort.
»Euer Lachen hat zumindest so geklungen. Ihr habt ja so gelacht, dass ich dachte, ihr macht euch in die Hose!«
Seine Pupillen waren klein wie Stecknadelköpfe und kaum zu sehen, aber er lächelte schon wieder, dieses Mal nicht ganz so gekünstelt, es sah beinahe nett aus.
»Ich mach mich nur lustig. Komm, wir setzen uns.«
Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie an der Hand. Seine Hände waren erstaunlich weich und warm, und als er ihre Hand mit einer kaum spürbaren Bewegung
Weitere Kostenlose Bücher