Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
bei Ihnen richtig bin«, versucht Swensen ihr zu schmeicheln. Diesmal erweist sie sich als resistent. Die restliche Zeit verläuft dann unerwartet wortkarg.
Zwanzig Minuten später betreten beide den Arbeitsraum von Elisabeth Karl und setzen sich an ihren Arbeitsplatz. Swensen zieht das Foto von Ludwig Rohde heraus.
»Das ist das typische Outfit der damaligen Hippiezeit. Heute läuft niemand mehr so ’rum. Ich glaube, ohne die langen Haare und den Bart wären wir schon ein ganzes Stückchen weiter.«
Elisabeth Karl grinst nur, nimmt das Bild ohne ein Wort, scannt es ein und beginnt routiniert ihre Arbeit mit Maus und Tastatur. Swensen registriert, dass ihr Kontakt gestört bleibt.
Sie hat genau gemerkt, dass du den Flirt abgebrochen hast, denkt er. Jetzt ist sie gekränkt, hält dich für einen Feigling. Oder sie glaubt, du interessierst dich nur für deine Arbeit. Das meinst du nicht wirklich, oder? Ihr Flirten hat dich angetörnt, und anstatt sich zu freuen, dass es vorbei ist trauert dein Ego dem Verlust gleich hinterher.
Er zieht sich ein Stück in den Raum zurück und lässt sie in Ruhe machen. Die Zeit läuft im Schneckentempo. Er versucht gelassen zu bleiben, wahrzunehmen, wie sich Untätigkeit anfühlt. Doch der Computerbildschirm wird immer präsenter, zieht seine Blicke förmlich an. Er sieht, wie das Bild seines Fälschers sich langsam verändert. Die Haarmähne und der Vollbart sind bereits verschwunden. Die Augen wirken dadurch wesentlich eindringlicher, vielleicht sogar stechend. Der Cursor fliegt zum Mundwinkel, fügt ein Grübchen ein und verfeinert es dann. Jetzt springen Linien auf die Stirn, werden zu ausgeprägten Falten. Die Nase schrumpft etwas zusammen.
Etwa eine dreiviertel Stunde später schnellt ihr Drehstuhl herum. Während der Drucker zu rattern beginnt, strahlen ihre blauen Augen Swensen an, als wenn sie damit seine ganzen Überlegungen ad absurdum führen wollte.
»Die Augen verändern sich selbst über Jahre überhaupt nicht. Ich habe sie als Ausgangspunkt genommen, sozusagen als ruhenden Pol, und drumherum drei Entwicklungsszenarien entworfen«, erklärt ihre raue Stimme.
»Drei Entwicklungsszenarien?«, fragt Swensen. »Deswegen hat es so lange gedauert.«
»Ich sagte doch, dass es nicht mal eben so nebenbei geht. Jeder Mensch kann sich in unendlich viele Richtungen verändern. Wir schränken sie auf drei Möglichkeiten ein. Erstens: der Mann hatte wenig Stress, hat sich die gesamte Zeit eher gut ernährt und sich körperlich überproportional gepflegt. Er liegt dadurch vielleicht einige Pfund über dem Normalgewicht. Zweitens, die normale Entwicklung: mehr Stress, normale Ernährung, weniger Aufwand für Körperpflege, das Standardgewicht. Drittens, und das trifft vielleicht am ehesten auf jemanden zu, der über lange Zeit mit einer falschen Identität lebt: Dauerstress, schlechte oder unregelmäßige Ernährung. Raucht und trinkt vielleicht, was sich bei älteren Männern auf die glatte Haut verheerend auswirken kann.«
Swensen bemerkt den kleinen Stich zwar, lässt ihn aber wie eine Wolke durch seine Gedanken ziehen.
»So ein Mensch wird natürlich eher schlanker daherkommen«, beendet Elisabeth Karl ihre Aufzählung und greift nach den drei DIN-A4-Bögen, die mittlerweile auf der Druckerablage liegen. Sie legt sie nebeneinander auf den Tisch. Swensen tritt davor, bleibt gebannt stehen, den Blick starr auf die Bilder gerichtet.
»Ist das Ihr Mann?« fragt Elisabeth Karl.
Swensen gibt keine Antwort, steht da und rührt sich nicht. Seine Augen schauen durch die computerveränderten Gesichter hindurch, als würde er versuchen in einem Buch dreidimensionale Bilder mit einem verschwimmenden Blick zu erkennen.
»Können Sie das zweite und dritte Bild miteinander verschmelzen? Die Nase nicht ganz so gerade. Machen Sie bitte an dieser Stelle einen kleinen Knick hinein«, sagt Swensen und zeigt mit dem Finger auf die obere Nasenpartie. Er hört sich an, als wenn er aus einer anderen Welt spricht. Elisabeth Karl merkt, dass gerade etwas Dramatisches passiert. Der Mann vor ihr ist hellwach, angespannt wie jemand, der kurz vor einer entscheidenden Erkenntnis steht.
Elisabeth Karl zieht sich an ihren Computer zurück. Mit der Maus steuert sie den Cursor über den Bildschirm, legt einzelne Partien der beiden Bilder übereinander, lässt sie verschmelzen und präsentiert ihr Ergebnis. Das neue Bild lässt keinen Zweifel mehr zu.
»Er ist es wirklich! Kein Zweifel mehr! Nicht zu
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