Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
verstanden? Möchten Sie einen Anwalt?«
Ruppert Wraage schüttelt verneinend den Kopf.
»Möchten Sie reden?«
Keine Antwort.
14
Er öffnet die Augen. Sein Blick fällt auf die schmutzig vergilbte Decke. Die Decke starrt zurück. Einen kurzen Moment versagen seine Sinne. Es gelingt ihm nicht einzuordnen, wo er sich gerade befindet. Dann packen ihn die gestrigen Ereignisse umso heftiger. Er fühlt eine zügellose Wut oder eher Hass, Hass auf die Polizei und besonders auf dieses blonde Monstrum, das ihn von hinten angegriffen hatte. Sein Kopf schmerzt. Er dreht ihn langsam zur Seite. Der Blick gleitet die Wand hinunter und trifft auf das vergitterte Fenster. Er sieht die Silhouette eines Baumes. Der Himmel dahinter ist stockdunkel. Nur von einer Straßenlampe, irgendwo da draußen, dringt diffuses Licht in den Raum und wirft den Schatten der Gitterstäbe schräg über den Boden und auf einen Teil der Wand. Die Pritsche quietscht, als er sich aufrichten will.
Was ist nur passiert, martern ihn seine Gedanken. Was ist da verkehrt gelaufen? Wieso haben die gewusst, wer er mal war? Und wer ist er jetzt? Ludwig Rohde? Seit Jahren hat ihn niemand mehr so angesprochen. Herr Rohde.
Der Name ist ihm fremd geworden. Rohde, ein überflüssiger Kropf, der anscheinend noch an ihm hängt.
Existiert dieser Rohde überhaupt noch? Nein, das ist nicht mehr er. Er ist eine Persönlichkeit, die in der Zeitung steht. Man kennt ihn. Wie viel Zeit hatte er gebraucht um sich das aufzubauen. Und jetzt will man ihm alles wieder nehmen. Das muss er verhindern. Niemand von diesen eingebildeten Storm-Experten wird ihm je nachweisen können, dass der Roman gefälscht ist. Dieser Roman ist perfekt, ein Meisterwerk, da ist er sich sicher. Wenn jemand etwas über Storm weiß, dann ist er das. Der Stil stimmt, die Sprache, die Schrift, Tinte, Papier, einfach alles stimmt.
Das Knurren seines Magens erinnert ihn daran, dass er Hunger hat. Er hatte gestern Mittag das letzte Mal etwas gegessen. Beim Verhör wurde ihm zwar Essen angeboten, aber er wollte sich vor dieser Polizei-Tussi nicht so weit erniedrigen es anzunehmen. Er hatte nichts getrunken, nichts gegessen und kein Wort gesagt. Und er würde sich weiterhin zusammenreißen und auch heute Morgen nichts essen. Einen Kaffee vielleicht, aber mehr nicht. So schnell würden sie ihn nicht kleinkriegen. Sollen sie doch kommen. Sie wollen schließlich ihm was beweisen …
Viel Vergnügen wünsch’ ich euch dabei, denkt er, reibt sich die brennenden Augen, steht auf und tritt ans Fenster. Um hinaus zu schauen, muss er auf einen Stuhl steigen. Durch die Gitterstäbe kann er die Straßenlampe sehen, die ihr Licht in seine Zelle wirft, eine der üblichen Bogenlampen. Ein Mensch eilt auf der Straße vorbei. Er steigt wieder vom Stuhl, geht zu dem kleinen Handwaschbecken, lässt sich Wasser in die hohle Hand laufen und nimmt einen Schluck. Dann setzt er sich auf die Pritsche zurück. Er blickt durch den Gitterschatten an der Wand ins Nichts. Sein Kopf schmerzt leicht und er wiegt ihn unbewusst vor und zurück.
Du hast alles richtig gemacht, denkt er und versucht seinen aufkeimenden Zweifel zu besänftigen.
Ich hab alles viel zu genau durchdacht. Das war alles 100%ig geplant und ausgeführt. Bis auf den Kurzschluss bei diesem Kargel. Der Scheißkerl hat es auch nicht anders verdient. Bestellt mich zu sich nur um mich zu provozieren und zwar absichtlich, gezielt und heimtückisch. Nun, da sind mir halt die Nerven durchgegangen. Was hätte ich tun sollen. Das Malheur mit Nolde musste sofort ausgemerzt werden, da gab es nichts zu überlegen. Und ich hatte glücklicherweise die Waffe von Peters dabei, die ich aus der Schublade seiner Videothek genommen hatte.
Da ist es wieder, das schreckliche Bild, welches ihn schon so oft verfolgt hat. Kargel kippt in Zeitlupe mit dem Stuhl nach hinten. Blut sprudelt aus einem Loch in der rechten Brust, versickert im blauen Anzugsstoff. Der Kopf schlägt auf dem Boden auf. Er hört das Röcheln, sieht die Blutblasen aus dem Mund blubbern, die wie Seifenblasen zerspringen.
An das, was danach passierte, kann er sich nicht mehr erinnern. Das erste Mal in seinem Leben hatte er so etwas wie ein ›Black-out‹ erlebt. Selbst bei seiner ersten Verhaftung war ihm das nicht passiert. Ein Mord war eben schon etwas Gewaltiges, nicht zu vergleichen mit seiner Fälschertätigkeit. Natürlich hatte der Verlust seiner Selbstbeherrschung nicht lange gedauert. Eine veränderte Lage
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