Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
fahren!« und die Mutter langte im Schlaf den Arm aus dem Bett und rollte die kleine Bettstelle hin und her, immer hin und her; und wenn ihr Arm müde werden wollte, so rief der kleine Häwelmann: »Mehr, mehr!«
In diesem Abschnitt ist es Storm gelungen, die symbiotische Periode eines Kleinkindes zu beschreiben. Der Häwelmann, dessen Name der Dichter von dem Wort Hätschelkind abgeleitet hat, genießt hier noch die Illusion von Herrschaft, weil das Kind glaubt, an der Allmacht seiner Mutter teilhaben zu können, diese sogar förmlich zu beherrschen. Wenn es der Mutter in dieser symbiotischen Phase und der folgenden Ablösungsphase nicht gelingt sich ausreichend auf ihn einzustellen, wird der kleine Häwelmann zwangsläufig charakterliche Muster entwickeln, die von den Charaktertheoretikern als schizoid und oral bezeichnet werden.
Aufstöhnend lässt Swensen das Manuskript auf die Bettdecke sinken. Er greift zum Fremdwörter-Duden, den er extra auf das Nachtschränkchen gestellt hat, blättert nach dem Wort schizoid und findet:
schizo… (scitso, griech.): spalt…, gespalten …
schizo-id, ein der Schizophrenie ähnlicher Zustand, eine Krankheit, die sich durch ein gespaltenes Seelenleben auszeichnet. In schweren Fällen mit Wahn und Bewusstseinstäuschungen.
Da hab ich Anna ja was versprochen, denkt er, legt Duden und Manuskript neben sich und streckt sich mit lautem Gestöhn. Anna hatte ihm das Essay, das sie letzte Woche auf ihrem Seminar ›Narzisstische Persönlichkeitsstörungen‹ vorgetragen hatte zum Lesen mitgegeben.
Normalerweise findet er ihre psychologischen Erläuterungen nicht nur spannend, sondern auch sehr hilfreich für seine Arbeit, doch im Moment kommt er mit der Lektüre nicht so recht voran. Heute ist der erste Tag, an dem er sich wieder etwas besser fühlt. Die Kopfschmerzen sind weg und auch die Nase ist fast frei. Am Montagmittag nach der Frühbesprechung war seine Erkältung nicht mehr zu unterdrücken gewesen. Er hatte Silvia die Leitung der SOKO übergeben und sich ins Bett gelegt. Es folgten zwei Tage fasten, nur heißes Wasser trinken, mehrmals täglich Kamille inhalieren, viel schlafen und unter der Bettdecke schwitzen.
Es hat sich gelohnt. Er fühlt sich besser, duscht ausgiebig, geht zum Bäcker und kocht sich ausnahmsweise mal einen starken Kaffee. Nach dem ersten Schluck fühlt er sich so richtig gepuscht, deckt liebevoll den Frühstückstisch und belegt sich zwei Brötchen mit Mozzarella, Tomaten und Basilikum. Er frühstückt in aller Ruhe, übt Achtsamkeit, indem er sich auf jeden Bissen konzentriert. Erst als er fertig ist, nimmt er sich die Zeitung, die er wegen der Schlagzeile ›Sieht so der Mörder von Beatrix aus?‹ vom Bäcker mitgebracht hat. Eine Zeichnung darunter zeigt ein Allerweltsgesicht.
›Passant sah Beatrix in einen silbergrauen Ford Passat einsteigen‹, liest er weiter und erfährt, dass die Polizei jetzt verstärkt nach dem Auto fahndet und den Fundort der Leiche großflächig nach Spuren absucht. Swensen kann sich gut vorstellen, was bei den Kollegen in Flensburg los ist.
Am letzten Sonntag horchte Anna ihn gleich, nachdem sie sich bei ihrem Lieblingsitaliener getroffen hatten, nach seinen Gefühlen im Fall der kleinen Beatrix aus. Swensen empfand das als lästig und war sofort im Widerstand.
»Meinst du etwa, immer wenn irgendwo ein Kind umgebracht wird, haut mich das automatisch um?«, hatte er sie barsch gefragt. Anna erwiderte nichts, sondern schaute ihm nur ganz ruhig in die Augen. Während er nach Annas Händen griff, hörte er den Satz seines Meisters: »Solange du deine Emotionen für etwas ausschließlich zerstörerisches hältst, hast du dich nicht wirklich mit ihnen auseinander gesetzt!«
»Es ist schon verdammt schwer, seine Ängste vor sich selbst zu benennen!«, sagte er leise.
Sie lächelte und erwiderte seinen sanften Händedruck. Das Eis war gebrochen. Er versuchte ihr seine diffusen Ängste zu erklären, die ihr Wunsch nach einem gemeinsamen Zusammenleben bei ihm hervorgerufen hatte. Es erstaunte ihn, dass auch sie sich durchaus nicht sicher war. Sie redeten offen miteinander und betraten nach Mitternacht in euphorischer Stimmung seine dunkle Wohnung. Die Dunkelheit entfachte ihr Verlangen. Sie schmiegte sich mit dem Rücken an Swensens Brust und spürte seine Lippen in ihrem Nacken, kurz unter dem Haaransatz. Seine Hände drangen unter ihren Mantel, ertasteten ihre weichen Rundungen und umkreisten den Hintern. Der Gedanke es
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