Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
keiner von den Kollegen aus der Inspektion in seiner Wohnung gewesen ist. Er hat seine Privatsphäre immer vehement gegen alles Berufliche abgeschottet. Doch jetzt ist es zu spät für Bedenken. Prompt bleibt Silvias Blick an seinem großen Messingbuddha hängen, der im Wohnzimmer auf einem Holzschrein steht. Er bemerkt ihren irritierten Gesichtsausdruck und kommt ihrer Frage zuvor.
»Dich interessiert die Figur?«
»Ein Buddha, nicht wahr?«
»Ja, ein Amoghasiddhi. In der linken Hand hält er einen Lotus und seine segnende Rechte ist eine Geste der Furchtlosigkeit.«
»Ich bin beeindruckt! Wieso weißt du das alles?«
»Ganz einfach, weil ich dem Buddhismus anhänge!«
»Ehrlich? Mensch Jan, das klingt ja spannend!«
Swensen Augen beginnen zu glänzen. Mit der Reaktion hat er nicht gerechnet. Motiviert erzählt er von seiner Zeit im Tempel, von seinem Meister Lama Rhinto Rinpoche und seiner meditativen Praxis. Am Ende wirkt Silvia so aufgeschlossen, dass Swensen ihr das Buch ›Der Buddha ist in dir‹ seines ehemaligen Meisters in die Hand drückt. Dann besorgt Swensen eine Vase für den Blumenstrauß und serviert einen Orangensaft. Silvia leert das Glas in einem Zug.
»Ich hab gehört, du hast Ärger mit Stephan?«, bringt Swensen das Gespräch auf die Arbeit.
»Nun ja, halb so schlimm. Sein übliches Generve gegen Frauen.«
»Soll’ ich mal mit ihm sprechen?«
»Ach, Quatsch! Dann könntest du auch gleich mit Rudolf über seine rechtsangehauchten Ansichten sprechen. Was soll das bringen?«
»Wie du meinst. Und wie kommt ihr voran?«
»Schleppend. Ich denke, unser Hauptproblem ist nach wie vor das fehlende Motiv!«
»Die Kontoüberprüfung von Edda Herbst hat nichts gebracht?«
»Nein, keine spektakulären Kontobewegungen, außerdem beträgt der Kontostand nur 300 DM.«
»Hat Hollmann im Haus noch was entdeckt?«
»Ach ja, das Wichtigste hätte ich glatt vergessen. Also, zu den Fingerabdrücken, die Hollmann schon beim ersten Mal sichergestellt hat, sind zwei neue hinzugekommen. Einer wurde auf dem Boden gefunden und einer an der Haustür. Die Überprüfung hat nichts ergeben, bis auf Edda Herbst konnten wir sie keiner Person zuordnen. Gleichzeitig wurden verschiedene Haare in Eddas Haus gefunden. Das kriminaltechnische Labor in Kiel hat an Hand der DNA-Analyse festgestellt, dass sie von sieben verschiedenen Personen stammen, Edda Herbst ausgenommen. Doch solange wir keinen Verdächtigen haben, sind die Ergebnisse wohl wertlos!«
»Wir könnten zumindest einen Speicheltest von Hajo Peters und dem Ex-Freund Peter Stange nehmen lassen. Die sind zwar nicht verdächtig, aber beide waren nach eigener Aussage im Haus. Wenn ihre DNA dabei ist, kennen wir immerhin schon mal zwei der sieben Unbekannten.«
Nachdem Silvia sich verabschiedet hat, versucht Swensen die neuen Ergebnisse in seine bisherigen Überlegungen einzubauen. Doch alle Bemühungen scheitern, aus der gedanklichen Puzzle-Arbeit will einfach kein Bild entstehen. Nach einer Stunde gibt er entnervt mit Kopfschmerzen auf. Er zieht sich warm an, holt seinen Wagen aus der Werkstatt und fährt an die Küste. Nach einem zweistündigen Spaziergang im Watt fühlt er sich klar. Wieder zuhause kocht er sich einen grünen Tee, schnappt sich Annas Manuskript und liest weiter: Der kleine Häwelmann will, dass seine Mutter ununterbrochen sein Bettchen rollt. Doch als die Mutter einschläft, funktioniert seine vermeintliche Allmächtigkeit nicht mehr. Storm hat hier, wahrscheinlich eher unbewusst, ein Symbol eines traumatisierten Säuglings geschaffen, der den Unterschied zwischen seinem Selbst und der Welt nicht wahrhaben will. Heute würde die Psychologie diesem Kind vielleicht eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Das Kind glaubt, von allem Besitz ergreifen zu können was die Welt zu bieten hat. Es hebt sein Beinchen wie einen Mastbaum in die Höhe, es hängt sein kleines Hemd wie ein Segel an seinen kleinen Zeh, es bläst mit beiden Backen in das Hemdzipfelchen und bringt sein Rollbettchen so in Bewegung. Im Himmel fährt Häwelmann in den hellen Sternenhaufen, so dass sie rechts und links vor Angst vom Himmel fallen. Als der Mond ihm endlich Einhalt gebietet, reagiert er mit hemmungsloser Wut auf diese Frustration. »Mehr, mehr!«
Häwelmann, der sich mit der Welt verschmolzen fühlt, fährt dem Mond brutal ins Gesicht. In einem plötzlichen Anfall narzisstischer Wut reagiert er mit Gewalt auf die Einschränkung seiner
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