Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
Sein Gesicht aschfahl, seine Haut wie zerbrechliches Pergament. Swensen steht hilflos im Raum. Durch seinen Beruf glaubte er schon fast nicht mehr daran, dass der Tod auch etwas Natürliches haben könnte. Er setzt sich auf einen Stuhl neben das Bett und will hier so lange warten, bis sein Vater sich rührt, sowie er seine ganze Jugend auf ein Zeichen seines Vaters gewartet hat.
Irgendwie ist er für mich nie erreichbar gewesen, denkt Swensen. Immer gab’ es eine Mauer zwischen ihm und mir.
Solange er seinen Vater kannte, ging der jeden Morgen pünktlich zum Husumer Bahnhof zur Arbeit. Er redete nie über etwas, was ihn bewegte oder gar über seine Gefühle. Er war nur immer da, unnahbar, ein Mann ohne Worte und Vergangenheit, wenn da nicht dieses Fotoalbum gewesen wäre. In der unteren Schublade im Stubenschrank lag es mit schwarzem Deckel, darauf rechts unten, eingeprägt in silberner Schrift ›Infanterie-Regiment 76‹. In der Mitte der Reichsadler mit dem Hakenkreuz in den Krallen. Dieses Fotoalbum hatte Swensen die gesamte Kindheit magisch angezogen. Da standen Männer in Uniformen. Sein Vater mit Verdienstkreuz an der Brust neben seiner Mutter im Brautkleid. Das Brandenburger Tor. Der Führer Adolf Hitler stehend mit erhobenem Arm in einem offenen Mercedes. Und weiter hinten Soldaten mit Helmen auf Lastwagen, zerstörte Häuser, zwei Tote am Straßenrand, ein zerschossenes Flugzeug. Das Kind ahnte, dass da etwas Schreckliches passiert sein musste, so schrecklich, dass darüber nie gesprochen wurde.
Wahrscheinlich, denkt Swensen neben dem Krankenbett, wurde zu diesem Zeitpunkt tief in mir verborgen der Wunsch geboren, etwas gut zu machen in dieser Welt, etwas abzutragen von der unausgesprochenen Schuld des Vaters, die gleichzeitig eine deutsche Schuld war und jetzt meine ist.
Vor ihm läuft der Lichtpunkt mit gleichmäßigen Sprüngen über den Monitor. Sein Schweif zieht ein zackiges Muster hinter sich her.
»Das Muster des Lebens!«, schießt es ihm durch den Kopf und Rinpoches Worte über die Illusion der Wirklichkeit füllen sich urplötzlich mit Erkenntnis.
Vielleicht hat mein Vater mir gar keine Schuld vererbt und ich hab die ganze Zeit nur eine eingebildete Schuld übernommen, eine Illusion. Vielleicht muss ich gar nichts wiedergutmachen und einfach nur Polizist sein, weil ich es sein will.
Das Muster verwandelt sich in einen Schlussstrich. Der stete Piepton geht in einen Dauerton über. Swensen schreckt hoch. Der Ton wird immer lauter, verändert sich in ein gellendes Klingeln.
Er greift zum Hörer.
»Swensen!«
»Riemschneider hier!«
»Jürgen! Hallo! Was macht der Fall Edda Herbst?«
»Ich fax dir gerade den Autopsiebericht rüber. Also, ums kurz zu machen, fass ich das Ergebnis schon mal grob zusammen. Wir haben Salzwasser in den Lungen gefunden.«
»Salzwasser! Dann ist sie ja doch da draußen ertrunken!«
»Halt stopp! Es handelt sich dabei um gechlortes Leitungswasser, dem Kochsalz hinzugefügt worden sein muss. Edda Herbst ist also mit Sicherheit nicht im Meer ertrunken, sondern höchstwahrscheinlich in einem Wasserbehälter. Ich tippe auf eine Wanne. Es gibt am ganzen Körper keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Aber das besagt nichts, denn wir haben außerdem in ihrem Blut Rückstände von Barbituraten gefunden, die in starken Schlafmitteln vorkommen. Edda Herbst ist vor dem Tod betäubt worden. Das spricht zwar im ersten Moment für Selbstmord, aber ein Selbstmörder fährt nach seiner Tat nicht mehr spazieren.«
»Wisst ihr, wann sie gestorben ist?«
»Die genaue Todeszeit lässt sich leider nicht bestimmen. Wir haben uns auf den 14. November geeinigt, plus minus 2 Tage.«
»Gibt es irgendwelche Anzeichen für eine Vergewaltigung?«
»Nein! Eine sexuelle Straftat kann definitiv ausgeschlossen werden!«
»Danke Jürgen, ich les’ mir euren Bericht durch.«
»Okay, Jan! Wenn ihr noch Fragen habt ruft an. Bis dann!«
»Moin, Moin!«
Swensen legt auf und nimmt den Hörer sofort wieder ab. Er wählt die Handynummer von Peter Hollmann. Es klingelt ellenlang bis jemand abnimmt.
»Hollmann!«
»Hier Swensen! Hallo Peter, i hr seid doch gerade im Haus von Edda Herbst. Ich hab eben den Obduktionsbericht aus Kiel erhalten. In Edda Herbst’s Lungen hat sich Salzwasser befunden. Nehmt euch bitte mal die Badewanne vor, ob ihr da Rückstände von Kochsalz findet. Außerdem könnten sich in Tassen oder Gläsern Spuren eines Schlafmittels befinden.«
»Schon in Arbeit! Sonst
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