Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
Persönlichkeitsentfaltung. Es ist nicht auszuschließen, dass sich so eine frühkindliche Entwicklungsstörung im Erwachsenenalter bis zur Anwendung von Gewalt steigern kann, ihr extremes Krankheitsbild ist der narzisstische Psychopath. Jede Einschränkung seiner irrtümlich angenommenen Omnipotenz wird von ihm als narzisstische Kränkung wahrgenommen und kann ohne Vorwarnung in kriminelle Gewalt münden. Ein Psychopath ist nicht selten eine tickende Zeitbombe, der auf eine Kränkung seiner eingebildeten Allmacht sogar mit Mord antworten kann.
* * *
Die Nacht ist rabenschwarz. Er biegt von der Schiffsbrücke in die Hohle Gasse. Etwas weiter oben rechts liegt das Elternhaus von Storm. Er biegt vorher links in die Wasserreihe. Das enge Sträßchen ist uneben und das Kopfsteinpflaster fällt an den Rändern schräg ab. Die verwinkelten Häuser haben schon bessere Zeiten gesehen. Jetzt kann er schon das alte Bürgerhaus mit dem hohen spitzen Giebel sehen, in dem sich das Stormmuseum befindet. Die schmale Fassade liegt zur Straße hin. Ansonsten ist das Gebäude eher unscheinbar. Bis auf einige Lilienanker, Gesimse und Backsteinmuster im Mauerwerk gibt es keine Verzierungen. Er öffnet das Gartentor und eilt über den mit Gehwegplatten gepflasterten kleinen Vorhof bis vor die doppelflügelige Eingangstür. Trotz der schrägen Butzenscheiben darin erinnert ihn die Form an den Eingang eines Westernsalons. Aus der Laterne links an der Hauswand fällt nur ein schwaches Licht auf den Eingangsbereich. Bevor er klingelt, schaut er auf die Uhr. Es ist 23:27 Uhr.
Eine hagere, tuberkulöse Gestalt mit wirrem, weißem Haar und abgeschabtem Jackett öffnet. Er erkennt in ihr Dr. Kargel von der Stormgesellschaft, der mit seiner Nickelbrille einer Karikatur aus einem Carl-Spitzweg-Gemälde gleicht.
»Kommen Sie doch rein!«, sagt Kargel mit einem leicht schroffen Unterton in der Stimme. »Ich dachte mir schon, dass Sie auf meinen Anruf hin noch so spät kommen würden.«
Er nickt nur kurz und tritt ein.
»Folgen Sie mir bitte nach oben ins Archiv«, sagt Kargel und steigt vor ihm stocksteif die mit Holzornamenten verzierte Treppe hinauf. Der breitbohlige Holzfußboden im ersten Stock knarrt bei jedem Schritt. Kargel führt ihn an einem der Ausstellungszimmer vorbei zu einer niedrigen Tür, die ebenfalls mit Paneelen bedeckt ist.
»Vorsicht, passen Sie auf ihren Kopf auf!«, warnt Kargel. »Die Tür ist nur 1.60 Meter hoch.«
Er zieht den Kopf ein und tritt in einen kleinen, büromäßig ausgestatteten Raum. Das Holzregal links an der Wand ist mit Leitzordnern vollgestellt. Kargel setzt sich mit einem schwülstigen Ausdruck von Überlegenheit hinter den Schreibtisch, während er sich ihm gegenüber auf dem Sofa platziert.
»Das hier ist das Original des angeblichen Storm-Romans«, beginnt Kargel und deutet auf den Papierstapel auf seinem Schreibtisch.
»Sie wissen ja, dass die ›Husumer Rundschau‹ mir das Manuskript für ein Gutachten überlassen hat. Die Fragestellung an mich lautet: Echt oder Fälschung? Die Beschaffenheit des Papiers wurde in der Zwischenzeit von einem Kieler Labor chemisch analysiert und als echt eingestuft. Aber das hat mich nicht besonders beeindruckt. Für einen raffinierten Fälscher ist es nicht gerade schwierig an altes Papier heranzukommen. Auf Auktionen werden heute nicht selten ganze Konvolute ungebrauchter Papiere des 18. und 19. Jahrhunderts angeboten.«
Kargel setzt eine gezielte Pause und lehnt sich selbstzufrieden zurück. Der andere Mann dreht mit provozierender Geste seinen Kopf zur Seite und schweigt.
»Das Papier ist nicht das entscheidende Thema! Ich sollte mich ja auch ausschließlich auf die Handschrift und den Inhalt konzentrieren und das habe ich auftragsgemäß ausgeführt. Der erste Eindruck hat mich dann schier überwältigt. Die Handschrift ist eindeutig Storm, zumindest konnte ich keinen gravierenden Unterschied erkennen. Auch Ausdruckweise, Stil und Schreibrhythmus sprechen grundsätzlich für die Echtheit des Dokuments. Ein Roman von Theodor Storm, ich konnte es einfach nicht glauben und ich wollte es auch nicht. Also bin ich noch mal jede Seite akribisch genau durchgegangen. Und siehe da, fast am Ende des Romans bin ich doch noch fündig geworden.«
Kargel blättert den Stapel der Schriftstücke durch und zieht vorsichtig einen Bogen hervor.
»Ich zitiere eine Passage aus dem vorliegenden Stormtext.«
Er rückt sich linkisch seine Brille zurecht, erhebt sich
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