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Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Titel: Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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ist?«
    »Natürlich, ich habe sie hier gesehen.«
    »Wissen Sie wie lange das her ist?«
    »Nein, nicht mehr genau. Das muss mindestens ein Jahr her sein. Ich bin hier nur sehr selten.«
     
    * * *
     
    Die schwarz-weiß-gescheckten Kühe glotzen mit weit aufgerissenen Augen von der Mattscheibe des Fernsehers, während sie von mehreren Männern mit Stöcken auf einen Lastwagen getrieben werden. Schnitt. Ein Landwirt, dem man mit einem gelben Schaumstoffball vor dem Gesicht herumfummelt, antwortet mit stockenden Worten auf die Frage, wie er sich denn nun so fühle. Schnitt. Der Lastwagen fährt in einem weiten Bogen vom Hof. Eine Sprecherstimme kommentiert: Das ist jetzt der vierte BSE-Fall in Deutschland. Schnitt. Der Verkaufstresen eines Supermarks. Der Verbraucher reagiert zunehmend verunsichert. Der Verkauf von Rindfleisch erlebt einen dramatischen Einbruch.
    Swensen hat den Fernseher nur beiläufig angeschaltet, weil er schon mehrere Tage keine Nachrichten mehr gesehen hatte. Doch jetzt ist er schon wenige Minuten nach Beginn der Tagesthemen genervt und spürt einen unterschwelligen Kopfdruck. Die Bilder wirken auf ihn plötzlich wie ein surrealistischer Albtraum. Widerwille schnürt ihm den Hals zu. Was passiert hier eigentlich täglich, denkt er. Und was ist eigentlich schlimmer? Mein Job? Eine Welt, in der Leichen mit Herzschüssen herumliegen, die ihnen von ihren Artgenossen beigebracht wurden oder diese Kühe, die in ein Schlachthaus transportiert werden müssen, weil sie vorher ihre Artgenossen gefressen haben?
    Swensen wendet seinen Blick einem goldgerahmten Foto zu, das er nach dem Tod seiner Eltern in einem Schuhkarton gefunden hatte. Auf dem braun kolorierten Bild hat sich sein Großvater Friedrich Swensen in seiner Bahnuniform stolz auf dem Bahnsteig des alten Husumer Güterbahnhofs in Pose gestellt. Im Hintergrund ein großer Viehtransport. Sein Vater hatte ihm in seiner Jugend von seinem Großvater erzählt, dem Bahnhofsvorsteher bei der Deutschen Reichsbahn. Da war Husum wegen der Viehmärkte jahrzehntelang der größte Eisenbahnknotenpunkt Europas gewesen. Da wurde sogar erwogen eine Fluglinie einzurichten um Viehhändler aus ganz Deutschland schneller nach Husum bringen zu können.
    Und jetzt, ein Jahrhundert später, wird das Vieh schon vor dem Verzehr vernichtet. Bald lassen die Stadtväter die letzten Reste dieses Güterbahnhofs abreißen. Dann ist Husum endgültig wieder zur tiefsten Provinz abgesunken, denkt Swensen. Und ich, ich bin glücklicherweise schon länger Vegetarier, wenn auch keiner dieser strengen ›Veganer‹, die noch nicht einmal Milch, Eier und Honig essen.
    Er greift sich die Fernbedienung und will gerade den Fernseher ausstellen, als der Sprecher etwas über das erneute Verschwinden eines Kindes im Raum Glücksburg ankündigt.
    Auf der Mattscheibe erscheint das Bild eines Mädchens. Im Fall der zwölfjährigen Janina Eggers aus Wees bei Glücksburg hat die Polizei eine erste heiße Spur. Schwenk über eine Straße. Ein Auto. Ein Zeuge hat das Mädchen am letzten Freitag in einen silbergrauen Opel Omega steigen sehen. Ein Phantombild mit einem bärtigen Gesicht. Nach Aussage dieses Zeugen handelt es sich bei dem Fahrer um einen zirka dreißigjährigen Mann, mittelgroß, glatte braune Haare. Der Mann trug eine braune Lederjacke und schwarze Jeans. Für sachdienliche Mitteilungen wenden Sie sich bitte an Ihre nächste Polizeistation.
    Swensen blickt in die Augen des Phantoms. Er drückt auf den Ausknopf der Fernbedienung. Das Bild fällt ins Schwarze, doch die Augen des Phantoms schauen ihn weiter an. Augen aus einem Gesicht ohne Körper, ein flaches Gesicht, eckig, verzerrt, feindselig. Swensen fühlt, wie sich sein Inneres vom Außen abtrennt. Er kennt das von sich. Das erste Mal war ihm das vor Jahren während seiner Therapie aufgefallen. Immer wenn er auf diese eine Form von Gewalt trifft, auf diese, die alles Menschliche leugnet, unberechenbar und unheimlich, entsteht in ihm eine innere Leere. Es ist, als wenn seine Gefühlswelt sich im Nichts auflöst und er nur noch zum funktionierenden Bullen wird. Ein Zustand, in den er manchmal völlig unerwartet hineingerät, so wie heute Nachmittag, als er nach dem Verhör bei Frederike Kargel noch beim Chefredakteur der ›Husumer Rundschau‹ vorbeischaute.
     
    Kaum hatte er das Gebäude betreten, da trug er die Buchstaben des Gesetzes förmlich vor sich her um damit alles niederzuwalzen, was in seinen Ermittlungsradius geraten

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