Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
zum Telefonhörer und wählt die Nummer der Rezeption.
»Bringen Sie mir bitte einen Flaschenöffner!«
Swensen setzt sich in einen der unbequemen Sessel und wartet. Als er vorhin von Elisabeth Karl erfuhr, dass die Abteilung Spurensicherung morgen plant das Storm-Manuskript zu untersuchen, beschloss er spontan in Kiel zu übernachten und dabei zu sein. Nachdem er das Landeskriminalamt verlassen hatte, kaufte er im erstbesten Kaufhaus ein T-Shirt und ein Oberhemd für den nächsten Tag. Er entschied sich für ein teures Signum, in dezentem Grau mit eleganten Knöpfen. Dann fuhr er direkt in die Innenstadt. Doch bei der Suche nach einem kleinen Zimmer verfranste er sich im Hafengebiet. Rechts am Schwedenkai lag ein monströses Fährschiff, hoch wie ein Dreifamilienhaus. Im Flutlicht konnte Swensen die offene Heckklappe sehen, die gierig Auto für Auto verschlang. Als er kurz darauf am Ostseekai links abbog, geriet er in ein Wirrwarr von kleinen Straßen. Ein freies Parkhaus rettete ihn im letzten Augenblick. Er stellte den Wagen ab und ging zu Fuß weiter. An der nächsten Ecke entdeckte er das kleine Hotel ›Kieler Sprotte‹ und checkte ein. 90 DM. Das war günstig.
Dafür gibt es hier keinen Flaschenöffner, denkt er, als ihm der Preis durch den Kopf geht. Es klopft. Der Zimmerservice bringt das begehrte Werkzeug. Er bedankt sich, kickt den Kronenkorken von der Flasche in den Papierkorb und trinkt sie ohne abzusetzen leer. Dann greift er sich ein Kissen, knetet es zusammen, doch es bleibt trotz aller Anstrengungen zu weich. Der Lotussitz fällt dementsprechend unbequem aus. Schon nach einer Minute schlafen ihm die Beine ein. Das feine Pieksen in den Fußsohlen martert seine Konzentration. Er muss unwillkürlich an seine erste Meditationssitzung im Schweizer Tempel seines Meisters denken.
Es war ein heißer Sommer, über dreißig Grad im Schatten. Er war gerade erst vor drei Stunden angekommen, als ein tiefer Glockenschlag die Schüler zur Sitzung rief. Swensen versuchte sich an ihnen zu orientieren, schaute sich bei ihnen ab, wie man offenbar zu sitzen hatte. Doch seine Beine schliefen nach kurzer Zeit ein. Dazu kamen ganze Schwärme von Mücken durch die geöffneten Fenster. Ihr fieses Summen nahm ihn völlig gefangen. Als die Ersten sich auf seinen Armen niederließen, schlug er mehrfach zu. Meister Rinpoche rügte ihn mit einer eindeutigen Handbewegung. Danach holte er ihn zum Gespräch.
»Rechtes Handeln bedeutet heilsames Handeln«, sagte Rhinto Rinpoche in gebrochenem Englisch. »Es geht darum Liebe und Gewaltlosigkeit zu entwickeln und niemandem Schaden zuzufügen.«
»Es war nur eine Mücke!«, hatte Swensen geantwortet.
Der Meister drehte sich zum Fenster. Im grellen Sonnenlicht, das von draußen in den Raum flutete, bekam seine Silhouette etwas Zerbrechliches.
»Ich für mich habe beschlossen, nicht zu töten«, sagte er mit sanfter Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Und ich werde es hier nicht zulassen, dass andere töten.“
Und da sind sie wieder, die ängstlichen Augen des Rehbocks. Swensen versucht ihnen zu entgehen, indem er sich auf seinen Atem konzentriert. Es gelingt ihm nicht. Der Blick bleibt. Die braune Iris bohrt sich tief in sein Inneres. Er spürt eine archaische Schuld. Seine Gedanken stürzen heillos ineinander: Kain, was hast du getan? Ich hatte Mitleid. Alles ist Ursache und Wirkung. Es war sein Karma, in meinen Wagen zu laufen. Du hast getötet. Es wäre auch so gestorben. Du hättest warten können. Bloß keine Mücke zum Elefanten machen. Der Förster hätte es nur für mich erledigt. Ich wollte zu meinen Taten stehen.
Das Handy klingelt. Swensens Gedanken driften erleichtert zum Geräusch: Das ist Stephan. Es könnte auch Anna sein. Nein, das ist Stephan. Er ist endgültig raus. Seine Augen öffnen sich ohne Gegenwehr. Das Handy klingelt zum zweiten Mal. Die linke Hand tastet in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Sie verharrt kurz, dann klingelt es zum dritten Mal. Sie greift zu.
»Swensen!«
»Stephan!«
»Was gibt’s Neues, Stephan?«
»Ich hab gerade mit diesem Hauptfeldwebel Glasner gesprochen und, kaum zu glauben, der konnte sich sogar noch ziemlich gut an Peters erinnern. War allerdings nicht gerade begeistert. Peters gehörte zu so einer Clique, die regelmäßig über die Stränge geschlagen hat, Zapfenstreich überschritten, Frauen in die Kaserne geschmuggelt und all solche Sachen. Außerdem soll er ein exquisiter Schütze gewesen sein. Besonders
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